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Приглашение


Oldenburger Jugendbuchpreis 1980 Bitterschokolade wurde von Gabriele Presber verfilmt (25 Min., 16 mm).

Informationen über FWU, Institut für Film und Bild,

Postfach 1261, D-82026 Grünwald, Tel. 089/6497444, Fax 089/6497240;

E-mail: [email protected]

http://www.FWU.de

Zu Bitterschokola.de gibt es ein Lehrerbegleitheft,

erhältlich gegen eine Schutzgebühr von DM 3,-

Beltz Verlag, Postfach 100161, 69441 Weinheim

ISBN 3 407 99061 8

Gulliver Taschenbuch 403

© 1980, 1986 Beltz Verlag, Weinheim und Basel

Programm Beltz & Gelberg, Weinheim

Alle Rechte vorbehalten

Einband von Max Bartholl

unter Verwendung eines Fotos von Monika Paulick

Gesetzt nach der neuen Rechtschreibung

Gesamtherstellung Druckhaus Beltz, 69494 Hemsbach

Printed in Germany

ISBN 3 407 78403 l

21 22 23 03 02 01 00


»Eva«, sagte Herr Hochstein. Eva senkte den Kopf, griff nach ihrem Füller, schrieb.»Eva«, sagte Herr Hochstein noch einmal. Eva senkte den Kopf tiefer, griff nach Lineal und Bleistift, zeichnete die Pyramide. Sie hörte ihn nicht. Sie wollte ihn nicht hören. Nicht aufstehen, nicht zur Tafel gehen. Jetzt hatte sie gewa­ckelt. Blind tastete sie nach dem Federmäppchen, ließ ihre Finger über die Gegenstände gleiten, harte Blei­stifte, ein kleiner, kantiger Metallspitzer, der Kugel­schreiber mit der abgebrochenen Klammer, aber kein Radiergummi. Sie nahm ihre Schultasche auf die Knie, suchte mit gesenktem Kopf. Man kann lange nach ei­nem Radiergummi wühlen. Ein Radiergummi ist klein in einer Schultasche.

»Barbara«, sagte Herr Hochstein. In der dritten Rei­he erhob sich Babsi und ging zur Tafel. Eva schaute nicht auf. Aber sie wusste trotzdem, wie Babsi ging, mit schmalen, langen Beinen, mit dem kleinen Hintern in engen Jeans.

Eva fand den Radiergummi und hängte die Schulta­sche wieder an den Haken. Sie radierte die verwackelte Linie und zog sie neu.

»Gut hast du das gemacht, Barbara«, sagte Herr


Hochstein. Babsi kam durch den schmalen Gang zwi­schen den Bankreihen zurück und setzte sich. In ihr Stuhlrücken hinein schrillte die Glocke.

Dritte Stunde Sport. Gekicher und Lachen im Um­kleideraum. Es würde ein heißer Tag werden, es war jetzt schon heiß. Eva zog ihre schwarzen Leggings an, wie immer, und dazu ein schwarzes T-Shirt mit kurzen Ärmeln. Sie gingen zum Sportplatz. Frau Madler pfiff und alle stellten sich in einer Reihe auf. Handball.

»Alexandra und Susanne wählen die Mannschaft.«

Eva kauerte sich nieder, öffnete die Schleife an ihrem linken Turnschuh, zog den Schnürsenkel heraus und fädelte ihn neu ein.

Alexandra sagte:»Petra.«

Susanne sagte:»Karin.«

Eva hatte den Schnürsenkel durch die beiden unters­ten Löcher geschoben und zog ihn gerade, sorgfältig zog sie die beiden Teile auf gleiche Länge.

»Karola.«-»Anna.«-»Ines.«-»Nina.«-»Kath-rin.«

Eva fädelte langsamer.

»Maxi.«-»Ingrid.«-»Babsi.«-»Monika.«-»Fran-ziska.«-»Christine.«

Eva begann mit der Schleife. Sie kreuzte die Bänder und zog sie zusammen.

»Sabine Müller.«-»Lena.«-»Claudia.«-»Ruth.«-»Sabine Karl.«

Eva ließ das Band über ihre Finger gleiten, legte die


Schleife und hielt sie zwischen Daumen und Zeigefin­ger fest.

»Irmgard.«—»Maja.«-»Inge.«-»Ulrike.«-»Han­na.«-»Kerstin.«

Ich müsste meine Turnschuhe mal wieder waschen, dachte Eva, sie haben es nötig.

»Gabi.«-»Anita.«-»Agnes.«-»Eva.«

Eva zog die Schleife fest und erhob sich. Sie war in Alexandras Gruppe.

Eva schwitzte. Der Schweiß rann ihr von der Stirn über die Augenbrauen, über die Backen und manchmal sogar in die Augen. Immer wieder musste sie ihn mit dem Unterarm und dem Handrücken wegwischen. Der Ball war hart und schwer, und die Finger taten ihr weh, wenn sie ihn einmal erwischte.

Auch die anderen hatten große Schweißflecken unter den Armen, als die Stunde zu Ende war. Eva ging sehr langsam zum Umkleideraum, sie zog sich sehr langsam aus. Als sie sich ihr großes Handtuch übergehängt hatte und die Tür aufmachte, waren nur noch ein paar Mädchen im Duschraum. Sie ging zur hintersten Du­sche, zu der in der Ecke. Nun beeilte sie sich, ließ das kalte Wasser über Rücken und Bauch laufen, nicht über den Kopf, das Fönen dauerte bei ihr zu lange. Mit den Händen klatschte sie sich Wasser ins Gesicht. Die Zementwand bekam dunkle Flecken, wo sie nass geworden war. Jetzt war Eva ganz allein im Dusch­raum. In aller Ruhe trocknete sie sich ab und hängte


sich das Handtuch wieder so über die Schulter, dass es ihren Busen und ihren Bauch verdeckte. Im Umkleide-rauni war niemand mehr. Als sie sich gerade ihren Rock angezogen hatte, öffnete Frau Madler die Tür.»Ach, Eva, du bist noch da. Bring mir doch nachher den Schlüssel.«

Eva kreuzte die Arme vor ihrer Brust und nickte.

Die große Pause hatte schon angefangen. Eva holte sich ihr Buch aus dem Klassenzimmer und ging in den Pausenhof. Sie drängte sich zwischen den Mädchen hindurch bis zu ihrer Ecke am Zaun. Ihre Ecke! Sie setzte sich auf den Zementsockel des Zaunes und blät­terte in ihrem Buch, suchte die Stelle, an der sie gestern Abend aufgehört hatte zu lesen. Neben ihr standen Lena, Babsi, Karola und Tine. Babsi war aber doch die Schönste. Dass sie sich das traute, das enge, weiße T-Shirt über der nackten Brust!

Eva fand die Stelle im Buch. Ich betrachtete den To­ten, seine ausgezehrte Gestalt. Die Falten in seinem Gesicht, obwohl er höchstens fünfunddreißig sein mochte. Er war einen für die Indios typischen Tod ge­storben. An Entkräftung. Sie kauen Kokablätter, um den Hunger zu unterdrücken, und eines Tages fallen sie um und sind tot.

»Ich war gestern in der Disko. Mit Johannes, dem Sohn von Dr. Braun.«

»Mensch, Babsi, das ist ja toll. Wie ist der denn so, so aus der Nähe?«


»Prima. Und tanzen kann der!«

Eva las weiter in»Warum zeigst du der Welt das Licht?«Vom schlanken Schlemmer bis hin zur Holly­woodkur fiel mir alles ein. Von der Vernichtung der Überproduktion in der EWG bis zu den Appetithem­mern, die in den Schaufenstern der Apotheken ange­priesen werden.

»Seid ihr mit seinem Auto gefahren?«

»Natürlich.«

»Mein Bruder ist mit ihm in einer Klasse.«

Er hatte Hunger, ich wusste es. Auch ich hatte Hun­ger, und ich konnte meine Röcke nur mehr mit Sicher­heitsnadeln daran hindern, mir am Körper herunterzu­rutschen. Ich machte die natürlichste Abmagerungskur der Welt. Ich hatte wenig zu essen.

Die Mädchen kicherten. Eva konnte nichts mehr verstehen, sie flüsterten jetzt. Franziska setzte sich ne­ben Eva.

»Was liest du denn?«

Eva klappte das Buch zu, den noch nicht gelesenen Teil zwischen Ringfinger und Mittelfinger haltend.

»Warum zeigst du der Welt das Licht?«, las Franzis­ka laut.»Ich kenne es auch. Gefällt es dir?«

Eva nickte.»Es ist spannend. Und manchmal trau­rig.«

»Magst du traurige Bücher?«

»Ja. Ich finde, wenn ein Buch gut sein soll, muss man wenigstens einmal weinen können beim Lesen.«



»Ich weine eigentlich nie beim Lesen. Aber im Kino, wenn es traurig ist, weine ich sehr schnell.«

»Bei mir ist es umgekehrt. Im Kino weine ich nie, aber beim Lesen oft. Ich gehe aber auch selten ins Kino.«

»Wir könnten doch mal zusammen gehen. Magst du?«

Eva zuckte mit den Schultern.»Könnten wir.«

Wann weinte sie? Welche Stellen in Büchern waren es, die sie zum Weinen brachten? Eigentlich immer Worte wie Liebe, Streicheln, Vertrauen, Einsamkeit, richtig kitschige Worte. Eva betrachtete Karola und Lena. Lena hatte den Arm um Karola gelegt, sehr be­sitzergreifend, sehr selbstbewusst. So, genau so, hatte Karola früher den Arm um sie gelegt. Eva kannte das Gefühl von Wärme, das man fühlt, wenn man von je­mand anders den Arm um die Schulter gelegt be­kommt, so ganz offen, vor allen anderen, so selbstver­ständlich. Es tat weh, das zu sehen. Wussten denn die, die das taten, die ihre Vertrautheit miteinander de­monstrierten, nicht, wie weh das den anderen tat? De­nen, die niemand hatten, die allein waren, ohne Nähe, ohne jemanden, den man unbefangen anfassen konnte, wenn man wollte.

Eva stand auf.»Ich hole mir noch einen Tee«, sagte sie. Sie wollte Franziska nicht verletzen, die Einzige, von der sie begrüßt wurde, wenn sie morgens in die Klasse kam.


Eva kam immer spät, im letzten Moment. An der Ecke Friedrichstraße/Elisabethstraße war eine Nor­maluhr, dort wartete sie immer, bis es vier Minuten vor acht war, um ja nicht zu früh anzukommen, um dem morgendlichen >Weißt-du-gestern-habe-ich< zu entge­hen.

Der Tee schmeckte schal und süßlich. Er war nur heiß.

Eva stand vor dem Schaufenster des Feinkostladens Schneider. Sie hatte sich dicht an die Schaufensterschei­be gestellt, damit sie ihr Bild im Glas nicht sehen musste, eine verzerrte, verschwommene Eva. Sie wollte das nicht sehen. Sie wusste auch so, dass sie zu fett war. Jeden Tag, fünfmal in der Woche, konnte sie sich mit anderen vergleichen. Fünf Vormittage, an denen sie gezwungen war zuzuschauen, wie die anderen in ihren engen Jeans herumliefen. Nur sie war so fett. Sie war so fett, dass keiner sie anschauen mochte. Als sie elf oder zwölf Jahre alt gewesen war, hatte es damit ange­fangen, dass sie immer Hunger hatte und nie satt wur­de. Und jetzt, mit fünfzehn, wog sie einhundertvier-unddreißig Pfund. Siebenundsechzig Kilo, und sie war nicht besonders groß.

Und auch jetzt hatte sie Hunger, immer hatte sie nach der Schule Hunger. Mechanisch zählte sie die Geldstücke in ihrem Portemonnaie. Vier Mark fünf-undachtzig hatte sie noch. Der Heringssalat kostete


 




zwei Mark hundert Gramm. Im Laden war es kühl nach der sengenden Hitze draußen. Bei dem Geruch nach Essen wurde ihr fast schwindelig vor Hunger.

»Zweihundert Gramm Heringssalat mit Mayonnaise, bitte«, sagte sie leise zu der Verkäuferin, die gelang­weilt hinter der Theke stand und sich träge am Ohr kratzte. Es schien einen Moment zu dauern, bis sie ka­pierte, was Eva wollte. Doch dann nahm sie den Finger von ihrem Ohr und griff nach einem Plastikbecher. Sie löffelte die Heringsstückchen und die Gurkenscheiben hinein, klatschte noch einen Löffel Mayonnaise darauf und stellte den Becher auf die Waage.»Vier Mark«, sagte sie gleichgültig.

Hastig legte Eva das Geld auf den Tisch, nahm den Becher und verließ grußlos den Laden. Die Verkäufe­rin fuhr fort, sich am Ohr zu kratzen.

Draußen war es wieder heiß, die Sonne knallte vom Himmel. Wie kann es nur im Juni so warm sein, dachte Eva. Der Becher in ihrer Hand war kalt. Sie beschleu­nigte ihre Schritte, sie rannte fast, als sie den Park be­trat. Überall auf den Bänken saßen Leute in der Sonne, Männer hatten sich die Hemden ausgezogen, Frauen die Röcke bis weit über die Knie hochgeschoben, da­mit auch ihre Beine braun würden. Eva ging langsam an den Bänken vorbei. Schauten ihr die Leute nach? Redeten sie über sie? Lachten sie darüber, dass ein jun­ges Mädchen so fett sein konnte?

Sie war an den Büschen angekommen, die die Bank-


reihe von dem Spielplatz trennten. Schnell drückte sie sich zwischen zwei Weißdornhecken hindurch. Die Zweige schlugen hinter ihr wieder zusammen.

Hier war sie ungestört, hier konnte sie keiner sehen. Sie ließ die Schultasche von der Schulter gleiten und kauerte sich auf den Boden. Das Gras kitzelte ihre nackten Beine. Sie hob den Deckel von dem Becher und legte ihn neben sich auf den Boden. Einen Mo­ment lang starrte sie den Becher andächtig an, die graurosa Heringsstückchen in der fetten, weißen Mayonnaise. An einem Fischstück sah man noch die blausilberne Haut. Sie nahm dieses Stück vorsichtig zwischen Daumen und Zeigefinger und steckte es dann in den Mund. Kühl war es und säuerlich scharf. Sie schob es langsam mit der Zunge hin und her, bis sie auch deutlich den dämpfenden, fetten Geschmack der Mayonnaise spürte. Dann fing sie an zu kauen und zu schlucken, griff wieder mit den Fingern in den Becher und stopfte die Heringe in den Mund. Den letzten Rest der Sauce schabte sie mit dem Zeigefinger heraus. Seufzend erhob sie sich, als der Becher leer war, und warf ihn unter einen Busch. Dann nahm sie ihre Schul­tasche wieder über ihre Schulter und glättete mit den Händen ihren Rock. Sie fühlte sich traurig und müde.


 





Eva klingelte unten am Hauseingang, zweimal kurz. Das tat sie immer. Ihre Mutter drehte dann die Platte des Elektroherdes an, auf dem das Mittagessen zum Aufwärmen stand. Wenn Eva nach Hause kam, hatten ihre Mutter und ihr Bruder bereits gegessen. Berthold war erst zehn und ging noch in die Grundschule um die Ecke.

Diesmal war das Essen noch nicht fertig. Es gab Pfannkuchen mit Apfelmus und Pfannkuchen machte ihre Mutter immer frisch.»Schön knusprig müssen sie sein. Aufgewärmt sind sie wie Waschlappen.«

»Wo ist Berthold?«, fragte Eva, als sie sich an den Tisch setzte. Irgendetwas musste man ja sagen.

»Schon lang im Schwimmbad. Er hat hitzefrei.«

»Das müsste uns auch mal passieren«, sagte Eva.»Aber bei uns ist es ja angeblich kühl genug in den Räumen.«

Die Mutter hatte die Pfanne auf die Herdplatte ge­stellt. Es zischte laut, als sie einen Schöpflöffel Teig in das heiße, brutzelnde Fett goss.»Was hast du heute vor?«, fragte sie und wendete den Pfannkuchen. Eva löffelte sich Apfelmus in eine Glasschüssel und begann zu essen. Von dem Geruch des heißen Fettes wurde


ihr übel.»Ich mag keine Pfannkuchen, Mama«, sagte sie.

Die Mutter hielt einen Moment inne, stand da, den Bratenwender mit dem darüber hängenden Pfannku­chen in der Hand, und sah ihre Tochter erstaunt an.»Wieso? Bist du krank?«

»Nein. Ich mag heute nur keine Pfannkuchen.«

»Aber sonst isst du Pfannkuchen doch so gern.«

»Ich habe nicht gesagt, dass ich Pfannkuchen nicht gern esse. Ich habe gesagt, ich mag heute keinen.«

»Das versteh ich nicht. Wenn du sie doch sonst im­mer gern gegessen hast...!«

»Heute nicht.«

Die Mutter wurde böse.»Ich stell mich doch nicht bei dieser Hitze hin und koche und dann willst du nichts essen.«Klatsch! Der Pfannkuchen lag auf Evas Teller.»Dabei habe ich extra auf dich gewartet.«Die Mutter ließ wieder Teig in die Pfanne laufen.»Eigent­lich wollte ich schon um zwei bei Tante Renate sein.«

»Warum bist du nicht gegangen? Ich bin doch kein kleines Kind mehr.«

Die Mutter wendete den nächsten Pfannkuchen.»Das sagst du so. Und wenn ich nicht aufpasse, kriegst du nichts Gescheites in den Magen.«

Mechanisch bedeckte Eva den Pfannkuchen mit Ap­felmus. Da war auch schon der Zweite.»Aber jetzt langt es, Mama«, bat Eva.

Die Mutter hatte die Pfanne vom Herd genommen


 




und zog sich eine frische Bluse an.»Ich habe im Kauf­hof einen schönen karierten Stoff gefunden, ganz billig, sechs Mark achtzig der Meter. Renate hat mir verspro­chen, dass sie mir ein Sommerkleid macht.«

»Du kannst doch selbst schon so gut nähen«, sagte Eva.»Wozu musst du immer noch zur Schmidhuber?«

»Sag nicht immer >die Schmidhuber<. Sag >Tante Re­naten«

»Sie ist nicht meine Tante.«

»Aber sie ist meine Freundin. Und sie mag dich. Sie hat schon viele schöne Sachen für dich gemacht.«

Das stimmte. Sie nähte immer wieder Kleider und Röcke für Eva, und sie konnte ja nichts dafür, dass Eva in diesen Kleidern unmöglich aussah. Eva sah in allen Kleidern unmöglich aus.

»Was machst du heute Nachmittag?«, fragte die Mutter.

»Ich weiß noch nicht. Hausaufgaben.«

»Du kannst doch nicht immer nur lernen, Kind. Du musst doch auch mal deinen Spaß haben. In deinem Alter war ich schon längst mit Jungen verabredet.«

»Mama, bitte, verschon mich.«

»Ich meine es doch nur gut mit dir. Fünfzehn Jahre alt und sitzt zu Hause rum wie ein Trauerkloß.«

Eva stöhnte laut.

»Gut, gut. Ich weiß ja, dass du dir von mir nichts sa­gen lässt. Möchtest du vielleicht einmal ins Kino ge­hen? Soll ich dir Geld geben?«Die Mutter öffnete das


Portemonnaie und legte zwei Fünfmarkstücke auf den Tisch.»Das brauchst du mir nicht zurückzugeben.«

»Danke, Mama.«

»Ich gehe jetzt. Vor sechs komme ich nicht zurück.«

Eva nickte, aber die Mutter sah es schon nicht mehr, die Wohnungstür war hinter ihr zugefallen.

Eva atmete auf. Die Mutter und ihre Schmidhuber! Eva konnte die Schmidhuber nicht ausstehen. >Tante Renate<! Eva vermied die direkte Anrede. Sie wunderte sich immer wieder, wie leicht Berthold das >Tante Re-nate< sagte und sich über den Kopf streicheln ließ.»Sie mag Kinder so gern. Es ist ihr größter Kummer, dass sie selbst keine bekommen kann«, hatte die Mutter ge­sagt. Von dem Kummer merkt man aber nicht viel, hatte Eva gedacht.

»Na, Eva, was macht die Schule? Hast du schon ei­nen Freund?«Hihi-Gekicher in dem runden Gesicht, volle, rot gemalte Lippen über weißen Zähnen und runde Arme, die sich um Eva legen wollten. Und ein tiefer Ausschnitt, der den Schatten zwischen den hoch­geschnürten Brüsten sehen ließ.»Man kann ruhig zei­gen, was man hat, nicht wahr, Marianne?«Und Evas Mutter hatte beifällig genickt. Sie nickte immer beifäl­lig, wenn die Schmidhuber etwas sagte. Eva fand, dass die Hälfte der Menschheit mit einem Busen herumlief und dass es keinen Grund gab, sich darauf was einzu­bilden und ihn besonders zur Schau zu stellen.

Eva ging in ihr Zimmer. Sie legte eine Kassette von


 




Leonard Cohen ein und drehte den Lautsprecher auf volle Stärke. Das konnte sie nur machen, wenn ihre Mutter nicht da war. Sie legte sich auf ihr Bett. Die tie­fe, heisere Stimme erfüllte mit ihren trägen Liedern das Zimmer und vibrierte auf Evas Haut.

Sie öffnete die Nachttischschublade. Es stimmte, da war wirklich noch eine Tafel Schokolade. Sie ließ sich wieder auf das Bett fallen und wickelte mit behutsa­men Bewegungen die Schokolade aus dem Silberpapier. Es war ein Glück, dass ihr Zimmer nach Osten lag. Die Schokolade war weich, aber nicht geschmolzen. Sie brach einen Riegel ab, teilte ihn noch einmal und schob sich die beiden Stückchen m den Mund. Zartbit­ter! Zart-zärtlich, bitter-bitterlich. Zärtlich streicheln, bitterlich weinen. Eva steckte schnell noch ein Stück in den Mund und streckte sich aus. Die Arme unter dem Nacken verschränkt, das rechte Knie angezogen und den linken Unterschenkel quer darüber gelegt, lag sie da und betrachtete ihren nackten linken Fuß. Wie zier­lich er doch war im Vergleich zu ihren unförmigen Waden und Oberschenkeln. Sie ließ den Fuß leicht auf- und abwippen und bewunderte die Form der Ze­hennägel. Halbmondförmig, dachte sie.

Ihre Mutter hatte dicke Ballen an den Füßen, breite Plattfüße hatte sie, richtig hässliche Füße, mit nach der Mitte eingebogenen Zehen. Eva ekelte sich vor den Fü­ßen ihrer Mutter, vor allem im Sommer, wenn die Mutter Riemensandalen trug und die rötlich verfärbten


Beulen seitlich zwischen den schmalen Lederriemchen herausquollen.

Eva griff wieder nach der Schokolade. Leonard Co­hen sang:»She was takmg her body so brave und so free, if I am to remember, it's a fine memory.«Auto­matisch übersetzte sie in Gedanken: Sie trug ihren Körper so tapfer und frei, wenn ich mich erinnern soll: Es ist eine schöne Erinnerung.

Der Geschmack der Schokolade wurde bitter in ih­rem Mund. Nicht zartbitter, sondern unangenehm bit­ter. Herb. Brennend. Schnell schluckte sie sie hinuner. Ich dürfte keine Schokolade essen. Ich bin sowieso viel zu fett. Sie nahm sich vor, zum Abendessen nichts zu essen, außer vielleicht einem kleinen Joghurt. Aber der bittere Geschmack in ihrem Mund blieb.»She was ta-king her body so brave and so free!«Sie, die Frau, von der Leonard Cohen sang, hatte sicher einen schönen Körper, so wie Babsi, einen mit kleinen Brüsten und schmalen Schenkeln. Aber wieso nannte er sie dann tapfer? Als ob es tapfer wäre, sich zu zeigen, wenn man schön war!

»Du bist wirklich zu dick«, hatte die Mutter neulich wieder gesagt.»Wenn du so weitermachst, passt du bald nicht mehr in normale Größen.«

Der Vater hatte gegrinst.»Lass nur«, hatte er gesagt,»es gibt Männer, die haben ganz gern was in der Hand.«Dazu hatte er eine anzügliche Handbewegung gemacht.


 




Eva war rot geworden und aufgestanden.

»Aber Fritz«, hatte die Mutter gesagt,»mach doch nicht immer solche Bemerkungen vor dem Kind.«

Das»Kind«hatte wütend die Tür hinter sich zuge­knallt.

Die Mutter war ihr in das Zimmer nachgekommen.»Sei doch nicht immer so empfindlich, Eva. Der Vater meint das doch nicht so.«

Aber Eva hatte ihr nicht geantwortet. Sie hatte wort­los und demonstrativ ihre Schulsachen auf dem Schreibtisch ausgebreitet. Die Mutter hatte noch eine Weile unschlüssig an der Tür herumgestanden und war dann gegangen.

Männer haben ganz gern was in der Hand, dachte Eva böse. Als ob ich dazu da wäre, damit irgendein Mann was in der Hand hat.

Sie machte den Kassettenrecorder aus. Leonard Co-hens Stimme verstummte.

Eva war unruhig. Sie stand unschlüssig in ihrem Zimmer und blickte sich um. Lesen? Nein. Aufgaben machen? Nein. Klavier spielen? Nein. Was blieb ei­gentlich noch? Spazieren gehen. Bei der Hitze! Viel­leicht doch noch schwimmen? Das war bei diesem Wetter keine schlechte Idee. Trotzdem war sie noch unentschlossen. Einerseits war das Wasser schon ver­lockend, aber andrerseits genierte sie sich immer im Badeanzug. Einen Bikini trug sie nie.

Im Mai hatte sie sich einen Badeanzug gekauft, einen


ganz teuren. Vater hatte eine Gehaltserhöhung bekom­men. Vergnügt hatte er seine Brieftasche herausgezo­gen, schweinsledern, naturfarben, ein Weihnachtsge­schenk von der Oma, und Eva einen Hunderter in die Hand gedrückt.»Da, kauf dir was Schönes.«

»Einen Badeanzug«, hatte die Mutter gesagt.»Du brauchtest einen Badeanzug.«

Eva stand am nächsten Tag in der Kabine, ganz dicht vor dem Spiegel, und hätte am liebsten vor Verzweif­lung geheult. She was taking her body so brave and so free. Eva hatte Angst gehabt, die Verkäuferin könnte den Vorhang zur Seite schieben und sie so sehen.

»Passt Ihnen der Anzug oder soll ich ihn eine Num­mer größer bringen?«

Es war eine peinliche Erinnerung. Auch jetzt noch, in der Erinnerung, fühlte Eva die Scham und ihre eige­ne Unbeholfenheit.

»Scheiße«, sagte sie laut in ihr Zimmer.

Sie packte ihr Badezeug und ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen. Türenschmeißen, das tat sie gern, das war eigentlich das Einzige, das sie tat, wenn sie sauer war. Was hätte sie auch sonst tun sollen? Schrei­en? Wenn man schon wie ein Trampel aussah, sollte man nichts tun, um aufzufallen. Im Gegenteil.


 




Als Eva aus dem Haus trat, schlug ihr die Hitze entge­gen, flimmerte über den Asphalt der Straße und brannte in ihren Augen. Fast bedauerte sie es schon, nicht in ihrem kühlen, ruhigen Zimmer geblieben zu sein. Sie nahm den Weg durch den Park. Er war zwar ein bisschen länger, aber wenn sie unter den Bäumen ging, war die Hitze erträglicher.

Die Parkbänke waren ziemlich leer um diese Zeit. Sie kam an den Büschen vorbei, hinter denen sie ihren Heringssalat gegessen hatte. Sie betrachtete den Kies auf dem Weg. Er war gelblich braun und auch ihre nackten Zehen waren schon von einer gelblich braunen Staubschicht überzogen. Da rempelte sie mit jemand zusammen, stolperte und fiel.

»Hoppla!«, hörte sie.»Hast du dir wehgetan?«

Sie hob den Kopf. Vor ihr stand ein Junge, vielleicht in ihrem Alter, und streckte ihr die Hand entgegen. Verblüfft griff sie danach und ließ sich von ihm beim Aufstehen helfen. Dann bückte er sich und reichte ihr das Handtuch mit dem Badeanzug, das auf den Boden gefallen war. Sie rollte es wieder zusammen.

»Danke.«

Ihr Knie war aufgeschürft und brannte.


»Komm«, sagte der Junge.»Wir gehen rüber zum Brunnen. Da kannst du dir dein Knie abwaschen.«

Eva schaute auf den Boden. Sie nickte. Der Junge lachte.»Na los, komm schon.«Er nahm ihre Hand und sie humpelte neben ihm her zum Brunnenrand.

»Ich heiße Michel. Eigentlich Michael, aber alle sa­gen Michel zu mir. Und du?«

»Eva.«Sie schaute ihn von der Seite an. Er gefiel ihr.

»Eva.«Er dehnte das»e«ganz lang und grinste.

Sie war durcheinander und das Grinsen des Jungen machte sie böse.»Da gibt es nichts zu lachen«, fauchte sie.»Ich weiß selbst, wie komisch das ist, wenn ein Elefant wie ich auch noch Eva heißt.«

»Du spinnst ja«, sagte Michel.»Ich habe dir doch gar nichts getan. Wenn es dir nicht passt, kann ich ja wieder gehen.«

Aber er ging nicht.

Dann saß Eva auf dem Brunnenrand. Sie hatte ihre Sandalen ausgezogen und stellte ihre nackten Füße in das seichte Wasser. Michel stand im Brunnen drin, schöpfte mit der hohlen Hand Wasser und ließ es über ihr Knie rinnen. Es brannte und lief als bräunlich bluti­ge Soße an ihrem Schienbein hinunter.

»Zu Hause solltest du dir ein Pflaster draufmachen.«

Sie nickte.

Michel stakte fröhlich im Brunnen herum. Eva musste lachen.»Eigentlich wollte ich ja ins Schwimm­bad. Aber der Brunnen tut's auch.«


 




»Und kostet nichts«, sagte Michel.

Eva stampfte ins Wasser, dass es hoch aufspritzte. Sie bückte sich und sprengte sich Wasser in das erhitzte Gesicht. Dann saßen sie wieder auf dem Mäuerchen, das um den Brunnen herumführte.

»Wenn ich Geld hätte, würde ich dich zu einer Cola einladen«, sagte Michel.»Aber leider...!«

Eva nestelte an ihrer Rocktasche und hielt ihm ein Fünfmarkstück hin.»Bitte, lade mich ein.«Sie wurde rot.

Michel lachte wieder. Er hatte ein schönes Lachen.»Du bist ein komisches Mädchen.«Er nahm das Geld und einen Augenblick lang berührten sich ihre Hände.

»So, jetzt bin ich reich«, rief er übermütig.»Was möchte die Dame haben? Cola oder Limo?«

Sie gingen nebeneinander her zum anderen Ende des Parks, zum Gartencafe. Es war das erste Mal, dass sie mit einem Jungen ging, außer mit ihrem Bruder natür­lich. Sie schaute ihn von der Seite an.

»Eva ist doch ein schöner Name«, sagte Michel plötzlich.»Nur ein bisschen altmodisch klingt er. Aber das gefällt mir.«

Sie fanden noch zwei freie Plätze an einem Tisch un­ter einer großen Platane. Hier war es voll. Die Leute lachten und redeten und tranken Bier. Die Cola war eiskalt.

»Mir war es ziemlich langweilig vorhin, bevor ich dich getroffen habe.«


»Mir auch.«

»Wie alt bist du?«, fragte Michel.

»Fünfzehn. Und du?«

»Ich auch.«

»In welche Klasse gehst du?«, fragte Eva.

»In die Neunte. Für mich ist es bald aus mit der Ler­nerei.«

»Ich gehe auch in die Neunte. Ins Gymnasium.«

»Ach so.«

Sie schwiegen beide und nuckelten an ihrer Cola. Wenn ich nichts sage, hält er mich für doof und lang­weilig, dachte Eva. Aber er sagt ja auch nichts.

»Was machst du, wenn du mit der Schule fertig bist?«

»Ich? Ich werde Matrose. Natürlich nicht gleich, aber in ein paar Jahren bin ich Matrose, darauf kannst du dich verlassen. Für mich gibt's diese ewige Stellen­sucherei nicht. Ich habe einen Onkel in Hamburg, der sucht ein Schiff für mich, als Schiffsjunge erst mal. Mein Onkel kennt genügend Leute, der bringt mich bestimmt unter. Sobald ich mein Zeugnis in den Hän­den habe, geht es los.«

Eva gab es einen Stich. Er würde bald nicht mehr da sein. Blöde Gans, dachte sie und zwang sich zu einem Lächeln.»Ich muss noch ein paar Jahre in die Schule gehen.«

»Für mich wäre das nichts, immer diese Hockerei.«

»Mir macht es Spaß.«


 




Michel rülpste laut. Die Bedienung kam vorbei. Mi­chel winkte ihr und bezahlte. Eine Mark bekam er he­raus. Er nahm sie und steckte sie ein. Eigentlich gehört sie mir, die Mark, dachte Eva.

Michel fragte:»Tut dein Knie noch weh?«

Eva schüttelte den Kopf.»Nein, aber ich will jetzt heim.«

Sie gingen mit ruhigen, gleichmäßigen Schritten ne­beneinander her. Obwohl sie sich nicht berührten, ach­teten sie darauf, dass ihre Schritte gleich lang waren.

»Gehen wir morgen zusammen ins Schwimmbad?«, fragte Michel.

Eva nickte.»Wann treffen wir uns?«

»Um drei am Brunnen. Ist dir das recht?«

Vor Evas Haus angekommen, gaben sie sich die Hände.

»Tschüss, Eva.«

»Auf Wiedersehen, Michel.«

Die Mutter und Berthold waren noch nicht da. Eva schaute auf die Uhr. Viertel nach Fünf. In einer halben Stunde würde ihr Vater nach Hause kommen. Eva ging ins Badezimmer und drehte den Wasserhahn an. Sie ließ das kalte Wasser über ihre Hände und Arme lau­fen und schaute in den kleinen Spiegel über dem Waschbecken. Sie hatte rötliche Backen bekommen von der Sonne. Das sah eigentlich ganz schön aus. Ihr Gesicht war überhaupt nicht so übel, und ihre Haare waren ausgesprochen schön, dunkelblond und lockig,


und am Haaransatz an der Stirn kräuselten sie sich und waren ganz hell. Sie griff mit beiden Händen nach dem Pferdeschwanz und öffnete die Spange.

Jetzt sehe ich fast aus wie eine Madonna. So werde ich die Haare tragen, wenn ich erst einmal schlank bin, dachte sie.

Entschlossen band sie sich wieder den Pferde­schwanz und befestigte ihn mit der Spange. Dann machte sie sich an ihre Hausaufgaben. Aber es fiel ihr schwer, sich zu konzentrieren.

Sie hörte, wie die Wohnungstür aufgeschlossen wur­de. Ihr Vater kam nach Hause. Sie schaute sich schnell in ihrem Zimmer um und zog die Bettdecke glatt. Ihr Vater mochte das, wenn alles schön ordentlich aussah. Manchmal war er richtig pedantisch. Außerdem wusste sie nie, wie seine Laune war, wenn er nach Hause kam. Er konnte lange über einen Pullover auf dem Fußbo­den reden oder über eine Schultasche in der Flurecke, wenn er schlecht gelaunt war. Ihre Mutter lief meistens um fünf noch mal durch die ganze Wohnung und schaute nach, ob nichts herumlag.»Muss ja nicht sein, dass es Krach gibt«, sagte sie.»Wenn man es vermei­den kann!«

Gerade als Eva überlegte, warum er ihr manchmal so auf die Nerven ging, warum gewisse Eigenheiten von ihm sie so störten, dass sie ihn manchmal nicht aushal-ten konnte, gerade in diesem Moment öffnete er ihre Zimmertür.


 




»Guten Abend, Eva. Das ist aber schön, dass du so fleißig bist.«

Der Vater war hinter sie getreten und tätschelte ih­ren Kopf. Eva hatte sich tief über ihr Englischbuch ge­beugt und war froh, dass er ihr Gesicht nicht sehen konnte. Sie musste sich zusammennehmen, um nicht in diese Hand zu beißen.


Eva drückte auf den Knopf der Nachttischlampe. Nun war es fast ganz dunkel. Nur ein schwaches Licht drang durch das geöffnete Fenster. Der Vorhang be­wegte sich und dankbar spürte sie den leichten Luft­zug. Endlich war es ein bisschen kühler geworden. Sie zog das Leintuch über sich, das ihr in heißen Nächten als Zudecke diente, und kuschelte sich zurecht. Sie war zufrieden mit sich selbst, war richtig stolz auf sich, weil sie es geschafft hatte, das Gerede der Eltern beim Abendessen zu überhören und wirklich nur diesen ei­nen Joghurt zu essen. Wenn sie das zwei oder drei Wo­chen durchhielte, würde sie sicher zehn Pfund abneh­men. Ich bin stark genug dazu, dachte sie. Bestimmt bin ich stark genug dazu. Das hab ich ja heute Abend bewiesen.

Glücklich rollte sie sich auf die Seite und schob ihr Lieblingskissen unter den Kopf. Eigentlich brauche ich überhaupt nicht mehr so viel zu essen. Heute die Scho­kolade war absolut unnötig. Und wenn ich dann erst einmal schlank bin, kann ich ruhig abends wieder et­was essen. Vielleicht Toast mit Butter und dazu ein paar Scheiben Lachs.

Das Wasser lief ihr im Mund zusammen, als sie an


 




diese rötlich gemaserten, in Öl schwimmenden Schei­ben dachte. Sie liebte den pikanten, etwas scharfen Geschmack von Lachs sehr. Und dazu warmer Toast, auf dem die Butter schmolz! Eigentlich mochte sie scharfe Sachen sowieso lieber als dieses süße Zeug. Man wurde auch nicht so dick davon. Geräucherter Speck mit Zwiebeln und Sahnemeerrettich schmeckte ebenfalls ausgezeichnet. Oder eine gut gewürzte Boh­nensuppe!

Nur ein einziges, kleines Stück Lachs könnte nicht schaden, wenn sie morgen früh sowieso anfing, richtig zu fasten. Aber nein, sie war stark! Sie dachte daran, wie oft sie sich schon vorgenommen hatte, nichts zu essen oder sich wenigstens zurückzuhalten, und immer wieder war sie schwach geworden. Aber diesmal nicht! Diesmal war es ganz anders. Mit der größten Ruhe würde sie zusehen, wie ihr Bruder das Essen in sich hineinstopfte, wie ihre Mutter die Suppe löffelte und sie gleichzeitig laut lobte. Es würde ihr nichts ausma­chen, wenn ihr Vater in seiner pedantischen Art dicke Scheiben Schinken gleichmäßig auf das Brot verteilte und es dann noch sorgfältig mit kleinen, in der Mitte durchgeschnittenen Cornichons verzierte. Das alles würde ihr diesmal nichts ausmachen. Diesmal würde sie nicht mehr auf dem Heimweg nach der Schule vor dem Delikatessengeschäft stehen und sich die Nase an der Scheibe platt drücken. Sie würde nicht mehr hi­neingehen und für vier Mark Heringssalat kaufen, um


ihn dann hastig und verstohlen im Park mit den Fin­gern in den Mund zu stopfen. Diesmal nicht!

Und nach ein paar Wochen würden die anderen in der Schule sagen: Was für ein hübsches Mädchen die Eva ist, das ist uns früher gar nicht so aufgefallen. Und Jungen würden sie vielleicht ansprechen, so wie andere Mädchen, und sie einladen, mal mit ihnen in eine Dis­kothek zu gehen. Und Michel würde sich richtig in sie verlieben, weil sie so gut aussah. Bei diesem Gedanken wurde ihr warm. Sie hatte das Gefühl zu schweben, leicht und schwerelos in ihrem Zimmer herumzuglei-ten. Frei und glücklich war sie.

Eine kleine Scheibe Lachs wäre jetzt schön. Eine ganz kleine Scheibe nur, lange hochgehalten, damit das Öl richtig abgetropft war. Das könnte doch nicht scha­den, wenn sowieso jetzt alles gut würde, wenn sie so­wieso bald ganz schlank wäre.

Leise erhob sie sich und schlich in die Küche. Erst als sie die Tür hinter sich zugezogen hatte, drückte sie auf den Lichtschalter. Dann öffnete sie den Kühl­schrank und griff nach der Dose Lachs. Drei Scheiben waren noch da. Sie nahm eine zwischen Daumen und Zeigefinger und hielt sie hoch. Zuerst rann das Öl in einem feinen Strahl daran herunter, dann tropfte es nur noch, immer langsamer. Noch ein Tropfen. Eva hielt die dünne Scheibe gegen das Licht. Was für eine Farbe! Die Spucke sammelte sich in ihrem Mund und sie musste schlucken vor Aufregung. Nur dieses eine


 




Stück, dachte sie. Dann öffnete sie den Mund und schob den Lachs hinein. Sie drückte ihn mit der Zunge gegen den Gaumen, noch ganz langsam, fast zärtlich, und fing an zu kauen, auch noch langsam, immer noch genüsslich. Dann schluckte sie ihn hinunter. Weg war er. Ihr Mund war sehr leer. Hastig schob sie die beiden noch verbliebenen Scheiben Lachs hinein. Diesmal wartete sie nicht, bis das Öl abgetropft war, sie nahm sich auch keine Zeit, dem Geschmack nachzuspüren, fast unzerkaut verschlang sie ihn.

In der durchsichtigen Plastikdose war nun nur noch Öl. Sie nahm zwei Scheiben Weißbrot und steckte sie in den Toaster. Aber es dauerte ihr zu lange, bis das Brot fertig war. Sie konnte es keine Sekunde länger mehr aushaken. Ungeduldig schob sie den Hebel an der Seite des Gerätes hoch und die Brotscheiben spran­gen heraus. Sie waren noch fast weiß, aber sie rochen warm und gut. Schnell bestrich sie sie mit Butter und sah fasziniert zu, wie die Butter anfing zu schmelzen, erst am Rand, wo sie dünner geschmiert war, dann auch in der Mitte. Im Kühlschrank lag noch ein großes Stück Gorgonzola, der Lieblingskäse ihres Vaters. Sie nahm sich nicht die Zeit, mit dem Messer ein Stück abzuschneiden, sie biss einfach hinein, biss in das Brot, biss in den Käse, biss, kaute, schluckte und biss wieder.

Was für ein wunderbarer, gut gefüllter Kühlschrank. Ein hartes Ei, zwei Tomaten, einige Scheiben Schinken


und etwas Salami folgten Lachs, Toast und Käse. Hin­gerissen kaute Eva, sie war nur Mund.

Dann wurde ihr schlecht. Sie merkte plötzlich, dass sie in der Küche stand, dass das Deckenlicht brannte und die Kühlschranktür offen war.

Eva weinte. Die Tränen stiegen ihr in die Augen und liefen über ihre Backen, während sie mit langsamen Bewegungen die Kühlschranktür schloss, den Tisch ab­wischte, das Licht ausmachte und zurück ging in ihr Bett.

Sie zog sich das Laken über den Kopf und erstickte ihr Schluchzen im Kopfkissen.


 




Am nächsten Morgen wachte Eva mit brennenden Au­gen auf. Erst wollte sie zu Hause bleiben, im Bett lie­gen, krank sein, sie wollte nicht aufstehen und wieder in der Schule sitzen, leidend und verbittert, und sich an die letzte Nacht erinnern. Und an die vielen Nächte davor.

Müde zog sie das Laken über sich.

Die Mutter kam herein.»Aber Kind, es ist schon sie­ben. Steh doch endlich auf!«Und als Eva keine Anstal­ten machte, das Laken vom Kopf zu ziehen:»Fehlt dir was? Bist du krank?«

Eva setzte sich auf.»Nein.«

»Aber Kind, hast du was? Was ist denn los?«Die Mutter war auf Eva zugekommen und hatte die Arme um sie gelegt. Einen Moment lang, einen winzigen Moment lang, ließ sich Eva in diese Arme fallen. Die Mutter roch warm und gut, noch ohne Blendamed und Haarspray.

Doch dann hatte sie sich wieder in der Gewalt.»Ich habe schlecht geschlafen«, sagte sie.»Das ist alles.«

In der Schule war es wie immer, seit Franziska neu in die Klasse gekommen war, Franziska, die seltsamer-


weise noch immer neben Eva saß, nach vier Monaten immer noch.

Eva hatte lang allein gesessen, fast zwei Jahre lang, an dieser Bank ganz hinten am Fenster. Früher einmal war es Karola gewesen, die ihr morgens erzählt hatte, was gestern alles passiert war, und Eva, was passierte schon bei ihr, hatte es aufgesogen wie ein Schwamm, hatte Karolas Leben miterlebt, Geburtstagsfeiern, Ki­nobesuche, die berühmte Schauspielertante, den Reit­unterricht, alles hatte Eva miterlebt, bis das Miterleben schal wurde und verblasste in der Eifersucht. Karola und Lena, Lena und Karola. Lena, die Elegante.»Lena kann auch reiten! Findest du das nicht toll? Für nächs­ten Sonntag haben wir uns verabredet.«

Eva hatte genickt.»Toll.«Eva hatte Karola weiter abschreiben lassen, hatte gelächelt, hatte»Ja«gesagt und»Nein«gemeint, hätte schreien wollen, brüllen, der Lena die langen, blonden Haare ausreißen, aber sie hatte gelächelt. Und bei der nächsten Gelegenheit hatte sie den Platz in der letzten Reihe am Fenster gewählt. Allein.

Karola und Lena saßen in der Bank vor ihr. Eva konnte die morgendlichen Gespräche hören: Mensch, Lena, gestern bei der Party habe ich...! Meine Mutter hat mir einen Pulli mitgebracht, Spitze, sag ich dir! Eva konnte auch sehen, wie Karola der Lena die Hand streichelte. Eva wusste, wie weich Karolas Hände

waren.


 



 



Und dann war der Tag gekommen, vor vier Mona­ten, dass Franziska in der Tür gestanden hatte, lang­haarig, schmal.»Ja, ich komme aus Frankfurt. Wir sind umgezogen, weil mein Vater hier eine Stelle an einem Krankenhaus bekommen hat.«

Und Herr Hochstein hatte gesagt:»Setz dich neben Eva.«

Franziska hatte Eva die Hand gegeben, eine kleine Hand, kleiner als Bertholds, und sich gesetzt. Herr Hochstein hatte sie gefragt, was sie denn in ihrer letz­ten Schule zuletzt durchgenommen hatten in Mathe. Und als er feststellte, dass sie ziemlich weit zurück war, wandte er sich an die Klasse und sagte mit einem Lächeln, das kein Lächeln war, einem Lächeln, das sei­nen Mund nur in die Breite zog, einem Lächeln, das Eva schon lange auf die Nerven gegangen war:»Fran­ziska wird lange brauchen, bis sie unseren bayerischen Standard erreicht haben wird.«

Eva sah, dass Franziska rot wurde. Sie sah sehr jung aus, verlegen wie Berthold unter Vaters Bemerkungen. Und Eva stand auf und sagte ganz laut:»Herr Hoch­stein, wollen Sie damit sagen, dass wir in Bayern klü­ger sind als die in Hessen?«

Karola drehte sich um.»Gut«, flüsterte sie.

»Aber nein«, stotterte Herr Hochstein, dem scha­denfrohen Grinsen der Mädchen ausgeliefert,»so war das nicht gemeint. Es ist nur der Lehrplan, weißt du...!«


Eva war über sich selbst erschrocken.

»Danke«, flüsterte das Mädchen neben ihr.

Als die Stunde vorbei war, wandte sich Herr Hochstein noch einmal an Franziska.»Du hast Glück, dass du neben unserem Mathe-As sitzt. Eva könnte dir viel helfen.«

Diesmal war Eva nicht ganz sicher, ob es wirklich spöttisch gemeint war. Es klang fast wie ein gut ge­meinter Rat.

Franziska saß immer noch neben Eva. Und sie war im­mer noch ziemlich schlecht in Mathe, obwohl Eva ihre alten Hefte herausgekramt und sie ihr gleich am nächs­ten Tag gegeben hatte. Und immer noch sprach sie Eva an, redete mit ihr über Lehrer und gab ihr morgens zur Begrüßung die Hand.

»Ist etwas passiert?«

»Nein. Wieso?«

»Weil du so aussiehst.«

»Ich habe Kopfschmerzen.«

»Und warum bist du dann nicht zu Hause geblie­ben?«

Eva antwortete nicht. Sie packte ihre Bücher aus. Sie hasste diesen Raum. Sie hasste dieses Haus. Jeden Tag, immer wieder! Über vier Jahre lagen hinter ihr und über vier Jahre vor ihr. Sie konnte sich das fast nicht vorstellen. Erste Stunde Herr Hochstein, Mathe, zwei­te Stunde Frau Peters, Deutsch, dritte Stunde Frau


 




Wittrock, Biologie, vierte Stunde Herr Kleiner, Eng­lisch, fünfte Stunde Herr Hauser, Kunst, sechste Stun­de Frau Wendel, Französisch. Und in allen Fächern musste sie gut sein.

Ein Test in Englisch. Gelernt hatte sie gestern noch. Aber Karola, in der Bank vor ihr, stöhnte:»Und das bei diesem Wetter. Gestern war ich bis sieben im Schwimmbad.«

Diese Gans, dachte Eva. Immer beklagt sie sich, aber nie tut sie was. Sie ist selbst schuld.

»Franziska, gibst du mir einen Spickzettel?«, bat Ka­rola flüsternd. Franziska, die eine englische Mutter hatte und besser Englisch sprach als Herr Kleiner, nickte.

Eva begann zu schreiben. Franziska schob ihr einen Zettel zu.»Für Karola«, sagte sie leise. Eva schob den Zettel zurück.

»Sei doch nicht so. Gib weiter.«

Eva schüttelte den Kopf, sie schaute nicht auf, be­wegte den Kopf kaum merklich und hätte ihn doch schütteln wollen, deutlich sichtbar, hätte am liebsten laut»Nein«geschrien und»Sie geht schwimmen, sie geht auf Partys, sie geht tanzen, sie erlebt immer et­was! Warum soll sie auch noch gute Noten haben?«

Franziska hatte das winzige Kopfschütteln gesehen, sie beugte sich vor, schräg rüber, und ließ den Zettel über Karolas Schulter fallen.

Herr Kleiner war mit ein paar Schritten da, griff


nach Franziskas Blatt und legte es auf seinen Tisch. Mit seinem roten Filzschreiber zog er quer über das Geschriebene einen dicken Strich.

Niemand sagte ein Wort. Franziska saß mit unbe­weglichem Gesicht da. Sie ist selbst schuld, dachte Eva. Ganz allein ist sie schuld. Niemand hat sie ge­zwungen, das zu tun. Und dann dachte sie noch: Karo­la ist auch schuld. Warum tut sie nie etwas und will hinterher, dass andere ihr helfen?

In der Pause ging Franziska nicht neben Eva her.


 




Eva war um drei am Brunnen. Sie hatte den dunkel­blauen, engen Rock angezogen, dunkle Farben stre­cken, und die dunkelblaue Bluse, die die Schmidhuber ihr zum Sommer genäht hatte.

Michel war noch nicht da. Eva wischte mit der fla­chen Hand über die Brunnenmauer. Der Staub stob hoch und sank langsam zurück. Sie ärgerte sich über die grauen Wolken auf ihrem Rock, und beim Versuch, sie wegzuwischen, rieb sie den hellen Staub erst recht in das dunkelblaue Leinen. Die Steine waren heiß. Lange hielt sie es nicht aus, da in der Sonne, auffällige Statue auf dem Brunnenrand. Sie setzte sich unter ei­nen Baum.

Er kommt sicher nicht, dachte sie. Warum sollte er auch kommen? Er kann ganz andere Mädchen haben, schlanke, schöne. Sie pflückte ein Gänseblümchen und drehte es langsam zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her.

Warum warte ich? Ich weiß doch, dass er nicht kommt. Auf Karola habe ich auch so gewartet, damals, und ich stand an der Straßenecke, fast eine Stunde, bis ich dann heimging. Und am nächsten Tag war Karola überrascht, hatte es einfach vergessen, nur so. Tut mir


Leid, Eva, bei uns war plötzlich so ein Trubel. Meine Tante ist gekommen, ja, die. Du weißt schon.

Und Eva hatte gewusst, verstanden, genickt, gelä­chelt.

Michel war immer noch nicht da. Natürlich nicht. Er würde nicht kommen. Nach einer Stunde würde Eva traurig und enttäuscht nach Hause gehen, würde sich auf ihr Bett legen und weinen. Dann würde sie sich das Gesicht mit kaltem Wasser waschen, vielleicht ein Stück Schokolade essen und lächeln.

Schon viel früher hatte sie sich Schokolade in den Mund gesteckt und gelächelt. Komisch, dass ihr das jetzt einfiel. Das war gewesen, als Erika weggezogen war, Erika, die Freundin, mit der sie schon zusammen im Kindergarten gewesen war. In der zweiten Klasse waren sie gewesen, als Erikas Eltern wegzogen und ihr Erika wegnahmen. Die Mutter hatte Eva in den Arm genommen und ihr eine Tafel Schokolade gegeben.»Was soll man da machen?«, hatte sie die Schmidhuber gefragt.»Sie ist halt so sensibel.«Und die Schmidhu­ber hatte genickt und»Ja, ja«gesagt. Und Eva hatte die Schokolade gegessen, hatte sie im Mund zergehen lassen, herrliche, stumpfe Süße, hatte sie geschluckt und geschluckt, die Süße, hatte die Süße und die Trä­nen geschluckt und hatte in die Beruhigung ihres Mundes und ihres Bauches hineingelächelt.»Siehst du, Marianne«, hatte die Schmidhuber gesagt,»es gibt doch keinen Kummer, den man nicht mit etwas Gu-


 




tem ein bisschen versüßen könnte.«Eva hatte gelä­chelt.

Und nie hatte sie Erikas Briefe beantwortet.

Sie zupfte dem kleinen Gänseblümchen ein Blüten­blatt aus: Er liebt mich, ein zweites: von Herzen, ein drittes: mit Schmerzen, ein viertes: ein wenig, ein fünf­tes: nein, gar nicht. Es war nicht leicht, dem kleinen Gänseblümchen die noch kleineren Blütenblätter wirk­lich einzeln auszureißen. Als Eva schon über die Hälfte war, er liebt mich, von Herzen, mit Schmerzen, ein wenig, nein, gar nicht, versuchte sie, mit den Augen die weißen Blättchen abzutasten, herauszufinden, wie es enden würde. Das Gänseblümchen sah sehr nackt aus, sehr zerrupft. Wütend warf Eva es ins Gras.

Wie lange saß sie schon da? Sie hatte keine Uhr. Der Rasen war ausgedorrt, trocken, graugrüne Grasbü­schel, kurzstoppelig gemäht, nur ab und zu ein winzi­ges Gänseblümchen.

»Hallo, Eva.«

»Hallo, Michel.«

»Ich komme zu spät.«

»Ja.«

»Ich dachte, du würdest mich sowieso versetzen.«

»Wieso sollte ich das?«

»Ich weiß nicht. Halt so.«

Er trug dasselbe Hemd wie gestern, schwarz, die Zipfel waren so zusammengeknotet, dass man einen Streifen seines braunen Bauches sehen konnte. Er


setzte sich neben sie.»Wo hast du dein Schwimm­zeug?«

»Ich mag nicht ins Schwimmbad gehen.«

»Das ist gut. Ich habe nämlich immer noch kein Geld.«

Er sah mürrisch aus, schlecht gelaunt.

»Ist was?«, fragte sie.

»Was soll sein?«Er zupfte Grashalme aus, riss sie in kleine Stückchen, graugrüne, staubige Halme. Er hielt den Kopf gesenkt und schaute auf seine rupfenden Finger, seine braunen, langen Haare fielen nach vorn, verdeckten sein Gesicht, so dass Eva nur noch seine Nasenspitze sehen konnte. Die Worte saßen ihr im Hals, all die lockeren, lustigen Worte, die sie hatte sa­gen wollen, die Witze, die sie gern gemacht hätte, das Lachen, das sie gern gelacht hätte, alles war ihr im Hals stecken geblieben, ballte sich zu einem dicken Kloß und ließ sie schwer atmen. Es war so still. Sie be­mühte sich, leise tief durchzuatmen, sie wollte nicht keuchen wie ein Walross. Keuchten Walrosse über­haupt?

Warum sagte er nichts? Warum sagte sie nichts? War es das, auf das sie gewartet hatte?

Plötzlich sprang Michel auf.»Komm, wir gehen zum Fluss. Wir nehmen die Straßenbahn, dann geht's ganz schnell.«

Endhaltestelle der Linie sieben. Sie waren schwarz­gefahren. Michel hatte kein Geld, er hatte auch nicht


 




gewollt, dass Eva eine Karte kaufte.»Schade um das schöne Geld. Dafür kriegen wir eine Cola.«

Sie liefen durch die Stadtrandsiedlung, ein Haus wie das andere, lange Reihen gleicher Häuser, gleicher Gär­ten, gleicher Zäune.»Wenn da einer blau nach Hause kommt, findet er seine eigene Tür nicht mehr und lan­det bei der Nachbarin im Schlafzimmer«, sagte Michel und lachte.

Eva, unsicher, betroffen, lachte mit.

»Stell dir vor, bei der Nachbarin im Schlafzimmer! Und morgens merkt er erst, dass er nicht mit seiner Alten gepennt hat.«Michels Lachen klang falsch. Sie gingen schweigend weiter, an einem unkrautüber­wucherten Platz vorbei, Müllabladen-verboten-Schild über zerbrochenen Bierflaschen und leeren Ölsardi-nendosen. Zerbeulte Konservenbüchsen, ein alter Gummistiefel. Gelb.

Den Hang hinunter ging Michel vor. Breitbeinig, den linken Arm ausgestreckt, stützte er Eva, die keinen Halt fand mit ihren glatten Sandalen, sich nicht richtig bewegen konnte in ihrem engen, blauen Rock, der nicht mehr sehr blau war, und die unbeholfen, un­glücklich über ihre eigene Ungeschicklichkeit, hinter Michel den Hang hinunterrutschte. Dann waren sie endlich unten am Fluss. Es war nicht eigentlich der Fluss, es war ein kleiner Seitenarm, seichter Wasserlauf zwischen Unkraut, an einer Stelle Holunderbüsche, die weißen Blütendolden verbreiteten einen scharfen Ge-


ruch. Eva, atemlos von der Anstrengung, keuchte laut. Wie ein Walross, dachte sie. Nun keuche ich doch wie ein Walross.

Michel schaute sie vorsichtig an.»Gefällt es dir hier?«

Gefallen? Im Unkraut? Am Kieshang mit diesen spärlichen, mageren Hecken?

»Ginster«, sagte Eva.»Ich mag Ginster sehr gern.«

»Ich habe früher mal in dieser Gegend gewohnt. Mein Bruder und ich haben hier manchmal ein Nach­barmädchen hergeschleppt.«Er wurde rot.»Zum Doktorspielen.«

Michel zog seine Turnschuhe aus und krempelte die Jeans bis zu den Knien.»Komm«, sagte er.»Gehn wir ein bisschen ins Wasser. Es ist nicht tief.«

Eva bückte sich. Ihr Rock war ganz schön dreckig. Warum waren sie nicht ins Gartencafe gegangen? Sie hatte ja Geld. Oder wirklich an den Fluss, da, wo man in den Anlagen spazieren gehen konnte?

Das Wasser war kalt und gar nicht so schmutzig.

»Zieh doch deinen Rock aus, dann kannst du besser laufen«, sagte Michel. Eva schüttelte wild den Kopf, zerrte den Rock ein bisschen höher, nicht viel, nur ein bisschen über die Knie.

»Hier ist doch niemand«, rief Michel. Er stand am Rand, zog seine Jeans und das Hemd aus. Er trug eine Badehose darunter, schwarz wie sein Hemd.

Niemand? Hier ist niemand?, dachte Eva. Glaubt er


 




im Ernst, ich würde hier in Unterhosen rumlaufen? Wenn er dabei ist? Wenn ich doch wenigstens die schwarze Trikothose anhätte! Aber die weiße mit den rosa Blümchen, unmöglich!

Michel saß am Rand und buddelte mit den Händen ein Loch.»So haben wir das früher immer gemacht. Schau! Das wird der Ozean.«Mit dem Finger zog er eine Rinne vom Wasserrand zu der Vertiefung.»Und das hier ist ein Fluss. Der füllt jetzt das Meer.«

Eva häufte Erde an das Ufer.»Und das ist ein Berg.«Sie pflückte Gräser und Zweige und steckte sie in den Berg.»Bäume.«

Michel lachte. Er begann, mit flachen Kieselsteinen einen Weg anzulegen, einen gewundenen Weg den Berg hinauf.»Und oben, ganz oben, müsste ein Haus stehen. Dann könnte man abends den Mond über dem Meer sehen. Hast du das schon mal gesehen?«

»Ja«, antwortete Eva.»Wir waren vor zwei Jahren in Italien. In Grado.«

»Ich war schon dreimal in den großen Ferien bei meinem Onkel in Hamburg. Er ist mein Patenonkel.«

Sie schwiegen beide. Michel baute auch noch das Steinhaus.

Wie Dampfnudeln sehen meine Knie aus, dachte Eva. Michel hat schöne Beine. Richtig schöne, braune Beine.

Michel sagte:»Komm ein bisschen m den Schatten.«

Hinter den Holunderbüschen, unter dem beißenden


Geruch, breitete er sein Hemd auf dem Boden aus, die rechte Seite nach oben.»Hier.«

Sie lagen nebeneinander. Eva lag gern auf dem Rü­cken. Sie konnte dann, wenn sie mit ihren Händen da­rüber fuhr, ihre Beckenknochen fühlen, im Liegen war fast kein Speck darüber, die Haut spannte sich weich über dem Knochen. Und ihr Bauch war flach, wenn sie auf dem Rücken lag.

Michel rückte näher. Er legte seine Hand auf ihre Brust.

»Nein«, sagte Eva laut.

Michels Stimme klang anders als vorher.»Sei doch nicht so zickig.«

»Nein«, sagte Eva noch einmal. Sie setzte sich und zerrte ihren Rock über die Knie.

»Blöde Kuh«, sagte Michel, sprang auf und lief zum Wasser. Er ließ sich ganz hineinfallen, tauchte unter, prustete laut und tauchte wieder unter. Nach einer Weile kam er heraus.

»Ich will gehen.«Eva klopfte an ihrem Rock herum, versuchte, die staubigen Spuren zu verwischen.

Michel zog, nass wie er war, seine Jeans an, schüt­telte sein Hemd aus und band es sich um den Bauch. Den Hang hinauf gingen sie ganz schräg, ganz lang­sam. Michel zog Eva an der Hand hinter sich her. Oben angekommen, sagte er:»Das mit der blöden Kuh hab ich nicht so gemeint.«

»Ist schon gut.«


 




Sie gingen nebeneinander her.

»Hast du schon mal einen Freund gehabt?«

»Nein.«

»Ach so.«

»Und du, hast du schon eine Freundin gehabt?«

»Ja. Ich kenne viele Mädchen. Aber keine wie dich.«

»Wie sind die Mädchen, die du kennst?«

Michel zuckte mit den Achseln.»Anders halt«, sagte er unbestimmt.

Nach einer Weile hielten sie sich an den Händen beim Gehen, sie schauten sich an und lachten. Sie wa­ren schon längst an der Endhaltestelle der Linie sieben vorbei.

»Komm, rennen wir ein bisschen«, sagte Michel.

»Ich kann nicht gut rennen«, wehrte Eva ab.

»Du musst ein bisschen abnehmen, dann kannst du auch besser rennen.«

Eva zuckte zusammen, ließ aber ihre Hand in seiner.

»Ich habe vier Brüder und drei Schwestern«, sagte Michel.

»Das sind ja acht Kinder! Um Gottes willen!«

»Das sagt jeder, der es hört«, sagte Michel.»Als ob das ein Verbrechen wäre.«

»Nein, so nicht. Aber es ist doch selten, dass eine Familie so viele Kinder hat. Wir sind zwei, mein klei­ner Bruder und ich.«

»So schlimm ist es auch wieder nicht, acht Kinder. Da, wo ich wohne, haben die meisten Leute mehrere


Kinder. Es gibt sogar eine Familie, die haben zwölf. Bei uns sind nur noch sechs zu Hause, meine Schwes­ter ist verheiratet und mein Bruder ist bei der Bundes­wehr. Es ist also nicht so schlimm. Nur Geld haben wir nicht viel. Also Taschengeld habe ich noch nie be­kommen.«

»Macht dir das nichts aus?«

»Doch, natürlich. Aber ich trage jeden Donnerstag den Stadtanzeiger aus, die Arbeit habe ich von meinem Bruder geerbt, nicht von dem bei der Bundeswehr, von Frank, der ist im ersten Lehrjahr. Dafür kriege ich im­mer zwanzig Mark. Morgen habe ich wieder Geld. Gehst du am Samstag mit mir ins Kino?«

»Ja, gern.«

»Morgen kann ich nicht, wegen dem Anzeiger. Hast du am Freitag Zeit?«

Eva schüttelte den Kopf.»Freitags habe ich Klavier­stunde. Außerdem muss ich zu Hause helfen beim Put-

zen.«

Michel grinste.»Bei uns wird auch freitags geputzt. Und samstags ist schon wieder der größte Verhau.«

Es war spät geworden. In der Straßenbahn, diesmal mit Karte und gestempelt, nachdem sie drei Haltestel­len weit gelaufen waren, dachte Eva an den Krach, den sie zu Hause bekommen würde. Unbehaglich rutschte sie hin und her.

»Musst du pinkeln?«, fragte Michel.

Eva schaute sich erschrocken um.»Nein«, flüsterte


 




sie.»Aber es ist schon gleich halb acht. Ich kriege Krach zu Hause.«

»Mit fünfzehn noch? Meine Schwester hat mit sech­zehn geheiratet.«

»Du kennst meinen Vater nicht«, sagte Eva.

»Sie hat heiraten müssen«, sagte Michel.


Eva öffnete die Wohnungstür.

»Eva?«, rief die Mutter aus der Küche.

»Ja.«

Die Mutter kam heraus und trocknete sich die Hän­de an der Schürze ab.»Da bist du ja endlich. Wo hast du nur so lange gesteckt? Wir haben schon gegessen. Der Papa ist böse. Du weißt doch, dass wir alle um halb sieben da sein sollen.«

»Damit er was zum Kommandieren hat.«

»Sei nicht frech.«

Eva zuckte mit den Schultern, zuckte die Mutter weg, das Nörgeln, hätte Watte in den Ohren haben mögen, nichts mehr hören, Mutter in der hellblauen Schürze, mit den Wasserflecken darauf, Mutter, die sie mit großen Augen ansah, porzellanblauen, waschblau­en, verwaschenen Augen. Michels Schwester hatte mit sechzehn geheiratet.»Ich bin kein kleines Kind mehr«, sagte Eva.

Das sagte sie auch zu ihrem Vater, der schon vor dem Fernsehapparat saß, tief in den Sessel gerutscht, die Füße auf einem Stuhl, neben sich auf dem Couch­tisch Zigaretten und Aschenbecher.

»Ich bin kein kleines Kind mehr«, sagte sie.


 



 



Der Vater schaute sie misstrauisch an.»Wo warst du denn?«

»Spazieren am Fluss.«

»Allein?«

Eva zögerte.»Mit einer Freundin«, sagte sie.

»Das nächste Mal bist du um sieben zurück, verstan­den?«

Eva biss in einen Apfel.»Ja«, antwortete sie mür­risch.»Andere aus meiner Klasse dürfen heimkommen, wann sie wollen.«

»Das kann schon sein. Aber bei uns ist das anders. Ich will nicht, dass du dich abends irgendwo rum­treibst. Solange du zu Hause bist und ich die Verant­wortung habe, richtest du dich nach dem, was ich sage.«

Eva biss wieder in den Apfel und ließ sich auf den freien Sessel fallen.»Was gibt's im Fernsehen?«

Wetten, dass...

Eva ging in ihr Zimmer. Sie konnte lange nicht ein­schlafen an diesem Abend. Es war sehr schwül.

Am nächsten Morgen in der Pause sagte Eva zu Fran-ziska:»Das tut mir Leid, das mit dem Englisch-Test gestern.«

»Nicht so schlimm, meine Note kann es nicht ver­sauen.«

»Ich habe es nicht wegen dir nicht weitergegeben.«

»Ich weiß.«


»Was weißt du?«

»Karola hat gesagt, du wärst immer noch eifersüch­tig, weil Lena ihre Freundin ist.«

Eva taten die Finger weh, so fest presste sie das Buch.»So toll ist sie ja nun auch wiede




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Дата добавления: 2015-08-30; просмотров: 564. Нарушение авторских прав; Мы поможем в написании вашей работы!



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