Diesmal kam eine Antwort.
Sie wusste nicht genau, wo die Worte ihren Ursprung hatten. Wichtig war nur, dass sie ankamen. Sie rückten auf sie zu und knieten sich neben ihr Bett. »Ein verspätetes Geburtstagsgeschenk. Schau es dir morgen früh an. Gute Nacht.« Eine Zeit lang glitt sie in den Schlaf hinein und wieder heraus, war sich nicht sicher, ob sie nur geträumt hatte, dass Max bei ihr gewesen war. Am Morgen, als sie erwachte und sich auf die Seite drehte, sah sie die Blätter auf dem Boden liegen. Sie griff nach unten und hob sie auf, lauschte dem Papier, das in ihren schläfrigen Händen kratzte. Mein ganzes Leben lang hatte ich Angst vor Männern, die über mir standen... Die Seiten, die sie umblätterte, waren laut, wie ein statisches Rauschen, das die Geschichte, die sie erzählten, umgab. Drei Tage, so sagte man mir... und was sah ich, als ich aufwachte? Unter den Worten lagen die ausgelöschten Seiten von Mein Kampf, keuchend, erstickend unter der Farbe, während sie umgewendet wurden. Sie hat mir bewiesen, dass der beste Überstehmann, den ich je gekannt habe... Liesel las und betrachtete Max Vandenburgs Geschenk drei Mal. Jedes Mal entdeckte sie einen neuen Pinselstrich. Danach kletterte sie, so leise sie konnte, aus dem Bett und ging in Mamas und Papas Zimmer. Der Platz neben dem Kamin war verlassen. Als sie darüber nachdachte, erschien es ihr sogar passender - nein, vollkommen passend -, ihm dort zu danken, wo die Seiten entstanden waren. Sie ging die Kellertreppe hinunter. Dort, an der Wand, sah sie ein gerahmtes Bild hängen, das nur in der Fantasie existierte - ein still gelächeltes Geheimnis. Obwohl sie nur ein paar Meter gehen musste, war es ein weiter Weg zu der Anordnung von Lumpen und Farbeimern, die Max Vandenburg abschotteten. Sie schob die Tücher, die der Wand am nächsten waren, beiseite, bis sie durch einen schmalen Korridor ins Innere schauen konnte. Das Erste, was sie von ihm sah, war seine Schulter. Durch die schmale Gasse hindurch schob sie langsam, verletzlich, ihre Hand, bis sie auf seiner Schulter zur Ruhe kam. Seine Kleidung war kühl. Er wachte nicht auf. Sie fühlte seinen Atem, fühlte, wie sich seine Schulter sanft hob und senkte. Eine Weile betrachtete sie ihn. Dann setzte sie sich und lehnte sich zurück. Schläfrige Luft schien ihr gefolgt zu sein. An der Wand neben der Treppe standen die Skizzen und Worte, an denen er geübt hatte, in ihrer ganzen Pracht, zerklüftet, kindlich und liebevoll. Sie schauten zu, wie der versteckte Jude und das Mädchen schliefen, Hand an Schulter. Sie atmeten. Deutsche und jüdische Lungen. Neben der Wand lag Der Überstehmann, erstarrt und erfreut, wie ein herrliches Kitzeln an Liesel Memingers Füßen. TEIL 5
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