Max beklagte sich nicht.
Welchen Grund hätte er auch haben können? Er erklärte, dass er zwar jüdischen Blutes sei und als Jude aufgewachsen, dass das Judentum aber heutzutage mehr als je zuvor ein Etikett war - ein verhängnisvolles Schild, an dem Pech klebte. Bei dieser Gelegenheit teilte er den Hubermanns auch sein Bedauern mit, dass ihr Sohn nicht nach Hause gekommen war. Als Antwort meinte Papa, dass sich diese Dinge ihrer Kontrolle entzögen.»Das müssen Sie doch am besten wissen«, sagte er zu Max.»Sie sind doch ein junger Mann, und ein junger Mann ist immer noch ein Kind, und ein Kind hat das Recht, ab und zu dickköpfig zu sein.« Sie beließen es dabei. In den ersten Wochen vor dem Kamin blieb Max wortlos. Jetzt da er einmal in der Woche ein Bad nahm, bemerkte Liesel, dass seine Haare gar kein Geäst waren, sondern mehr ein Nest aus Federn, die um seinen Kopf flogen. Sie fühlte dem Fremden gegenüber immer noch eine gewisse Scheu und flüsterte Papa zu:»Seine Haare sind wie Federn.« »Was?«Das Knistern des Feuers hatte ihre Worte geschluckt. »Ich sagte«, flüsterte sie noch einmal und beugte sich näher,»dass seine Haare wie Federn sind...« Hans Hubermann schaute auf und nickte. Ich bin sicher, er wünschte sich, die Augen des Mädchens zu haben. Sie waren sich nicht bewusst, dass Max alles gehört hatte. Gelegentlich brachte er seine Ausgabe von Mein Kampf'mit und las im Schein der Flammen. Er kochte angesichts des Inhalts. Das dritte Mal, als er es dabeihatte, fand Liesel den Mut, ihre Frage zu stellen. »Ist es... gut?« Er schaute von den Seiten auf, ballte seine Hand zur Faust und öffnete sie dann wieder. Er fegte den Zorn beiseite und lächelte sie an. Dann hob er die fedrigen Haarfransen und strich sie dann in Richtung seiner Augen glatt.»Es ist das beste Buch überhaupt.«Er blickte erst Papa an und dann Liesel.»Es hat mir das Leben gerettet.« Das Mädchen rückte ein wenig näher und schlug die Beine zum Schneidersitz übereinander. Leise fragte sie: »Wie?« Und so fing das Geschichtenerzählen im Wohnzimmer an. Jeden Abend fand es statt, gerade so laut, dass die Anwesenden die Worte verstehen konnten. Vor ihnen allen wurden die Teile des Puzzles zusammengesetzt. Das Bild ergab das Leben eines jüdischen Straßenboxers. Manchmal lag Humor in Max Vandenburgs Stimme, obwohl ihr Klangkörper beinahe nur aus Reibung bestand, wie ein Stein, der langsam über einen Felsbrocken geschoben wird. Manchmal war sie tief, und manchmal kratzte sie; manchmal brach sie entzwei. In Momenten der Reue klang sie unterirdisch und am Ende eines Scherzes oder in Augenblicken von Selbstverachtung zersplittert. »Herr Jesus«war der häufigste Kommentar zu Max Vandenburgs Erzählung, meist gefolgt von einer Frage.
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