Die Suppe war schrecklich.
Jeden Morgen, wenn sich Liesel auf den Schulweg machte, oder an den Tagen, an denen sie zum Fußballspielen hinausging oder die spärlich gewordenen Wäschekunden abklapperte, nahm Rosa sie beiseite.»Und denk dran, Liesel...«Sie legte den Finger an den Mund, mehr nicht. Wenn Liesel nickte, sagte sie:»Gutes Mädchen. Und jetzt ab mit dir, Saumensch.« Sie machte Papa und jetzt auch Mama Ehre: Sie war ein gutes Mädchen. Sie hielt den Mund, wohin sie auch ging. Das Geheimnis lag tief in ihr vergraben. Sie ging mit Rudi durch die Stadt wie immer und hörte sich sein Geplapper an. Manchmal verglichen sie Erlebnisse aus ihren jeweiligen Hitlerjugend-Einheiten. Rudi erwähnte zum ersten Mal einen sadistischen Anführer namens Franz Deutscher. Von da an sprach er oft über Deutschers Gemeinheiten; ansonsten redete er fast nur noch über Fußball und erging sich in endlosen Beschreibungen des jüngsten Tors, das er im Stadion in der Himmelstraße geschossen hatte. »Ich weiß«, versicherte ihm Liesel dann.»Ich war dabei.«»Na und?« »Ich hab's gesehen, Saukerl.« »Woher soll ich das wissen? Du hättest genauso gut auf dem Boden liegen und den Dreck schlucken können, den ich gerade aufgewirbelt hatte, als ich das Tor schoss.« Vielleicht war es Rudi mit seinem dummen Gerede, seinem zitronensaftigen Haar und seiner Unverschämtheit, der sie am Boden hielt, der ihr half, nicht durchzudrehen. Er strahlte eine Art von Urvertrauen aus, dass das Leben nur ein Spaß war - eine endlose Abfolge von Fußballspielen, Schwindeleien und einem unerschöpflichen Repertoire an sinnlosem Geschnatter. Und da war auch noch die Frau des Bürgermeisters und die Zeiten, in denen Liesel in der Bibliothek saß und las. Es war jetzt kalt dort, wurde bei jedem Besuch kälter, und doch konnte Liesel nicht fernbleiben. Sie suchte sich jedes Mal eine Handvoll Bücher aus und las in jedem kurze Abschnitte, bis sie eines Nachmittags ein Buch nicht mehr aus der Hand legen konnte. Es hieß Der Pfeifer. Sie fühlte sich gleich von dem Buch angezogen, weil es sie an die gelegentlichen Begegnungen mit Pfiffikus in der Himmelstraße erinnerte. Sie hatte sein Bild im Kopf, wie er in seinem Mantel gebückt durch die Straße ging und wie er ihr beim Freudenfeuer an Hitlers Geburtstag erschienen war. Das erste Ereignis in dem Buch war ein Mord. Jemand wurde erstochen. In einer Straße in Wien. Nicht weit vom Stephansdom entfernt.
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