Das Phonemsystem im Redefluss
1. Vorbemerkungen. 2. Anpassung der Nachbarlaute. 2.1. Anpassung eines Konsonanten an einen anderen 2.2. Anpassung eines Konsonanten an einen Vokal 3. Anpassung nach der Stimmlosigkeit 4. Anpassung nach der Verlegung der Artikulationsstelle 1.Auch L. W. Stscherba weist darauf hin, daß hin, daß die wichtigste Aufgabe der Phonetik in der Bestimmung der Schattierungen der Phoneme besteht, in der Erklärung der Positionsbedingungen, in denen die Schettierungen auftreten, und in der genauen Beschreibung der Schattierungen. Bei einer genaueren Betrachtung der flieЯenden Rede sehen wir, daЯ das Phonem in mehreren Schattierungen auftritt. Die Veränderungen in der Artikulation und im Klangbild hängen von der phonetischen Position ab. Dabei kommt nicht nur der Einfluß der Nachbarkonsonanten in Betracht, sondern auch die End- und Anfangsstellung der Phoneme und der Akzentgrad. Im Deutschen lassen sich z. B. im Phonem [k] mindestens 4 Schattierungen feststellen. Vgl. z. B. das [k] in den Wörtern ['khartə] Karte, [kca.'lεndər] Kalender, [khit] Kitt, [kci.lo.'me:tər] Kilometer. Jeder Sprache sind ihre besonderen Gesetzmäßigkeiten eigen, nach denen die Einwirkung der Umgebung und die Einwirkung des Akzentgrades erfolgt. Deshalb führt uns die Aneignung isolierter Phoneme noch nicht zum Ziel. Gut ist die Aussprache erst dann, wenn der Sprechende den Einfluß der phonetischen Umgebung und des Akzentgrades auf die Phoneme berücksichtigt. Alte phonetische Gesetzmäßigkeiten im Einfluß der Umgebungauf die Phoneme, die jetzt nicht mehr wirken, haben zu bestimmtem Phonemwechsel geführt, wie z. B. lei d en — li tt en, erkie s en erko r, schl a fen — schl äft;вu д eть — вu ж y, ne ч ь — ne к y, н e cy — н ё с. Lebendige Gesetzmäßigkeiten ergeben einen Wechsel von Schattierungen eines Phonems. Der aus historischen phonetischen Gesetzmäßigkeiten hervorgegangene Phonemwechsel gehört vor allem ins Gebiet der Morphologie der modernen Sprache, weil der Wechsel nicht mehr phonetisch bedingt ist und dem Ausdruck grammatisch-morphologischer Kategorien dient: Zeit, Person, Zahl, Modus, z. B. br e nn-en — br a nn-te, {er) schl äft — (ihr) schl a ft, die M u tter — die M ütter, er g e be —er g äbe. Die Einflüsse, denen die Phoneme in der fließenden Rede Unterworfen sind, lassen sich in folgende Gruppen einteilen: 1) Anpassung an Nachbarlaute (Assimilation), 2) Grenzstellung, 3) Einfluß des Akzentgrades, 4) Einfluß der Emphase, 5) Einfluß des Rhythmus. Dabei ist zu beachten, daß der Grad der Beeinflussung abhängt: l)von dem Sprechtempo, 2) von der Unterart der Literatursprache. Je schneller man spricht, desto größer ist die gegenseitige Anpassung und der Einfluß auf die Einzelphoneme überhaupt. Ebenso kommt in der Umgangssprache die Einwirkung auf das Phonem in stärkerem Maße zum Ausdruck als in der offiziellen Hochsprache. 2. Ein isoliert betrachtetes Phonem kann in drei Elemente zerlegt werden: den Anfang, die Mitte und das Ende. Der Anfang des Phonems ist der Teil, der während der Vorbereitung der Sprachorgane zur eigentlichen Artikulation des Lautes entsteht. Die Mitte entsteht durch eine mehr oder weniger stabile Artikulation der Sprachorgane und ist der Hauptteil des Phonems. Das Ende entsteht durch den Rückgang der Sprachorgane zur Ruhestellung. In der fließenden Rede ist das Phonem entweder mit dem vorhergehenden oder mit dem folgenden Laut eng verbunden, oder mit beiden zugleich. Dabei hat das Phonem mitten im Wort entweder keinen Anfang oder keinen vollen Anfang und kein Ende oder kein volles Ende. Im Wort finden hat z. B. das [n] kein Ende, denn der Verschluß wird nicht gelöst. Er dient der Bildung des nächsten Lautes [d]. Das [d] wiederum hat keinen Anfang, da der Verschluß schon gebildet ist. Andererseits hat das [n] keinen vollen Anfang, da die Bildung des Verschlusses nicht von der Ausgangsstellung beginnt, sondern von der hohen Zungenlage des [І]. Und das [d] hat kein volles Ende, da die Sprachorgane nicht in ihre Ruhelage zurückkehren, sondern zur Artikulation des reduzierten [ə] übergehen. In ähnlichen Fällen liegt eine geringe Einwirkung eines Lautes auf den anderen vor, eine Einwirkung, die sich nur auf den Anfang und auf das Ende erstreckt, während die Mitte unberührt bleibt. Nach der Richtung, in welcher die Einwirkung des aktiven Phonems auf das passive erfolgt, unterscheidet man progressive und regressive Assimilation. Im Wort шecmь wirkt das palatalisierte [T'] auf die vorhergehenden Laute ein. Die Einwirkung erfolgt also nicht in der Richtung, in welcher wir das Wort sprechen und schreiben, sondern rückwärts. Deshalb spricht man von einer regressiven Assimilation. Man könnte auch sagen: rückwirkender Einfluß. Im Wort Bücher dagegen ist die Beeinflussung nach vorn gerichtet, in der Richtung, in welcher man das Wort spricht und schreibt. Deshalb spricht man hier von progressiver Assimilation. Bei der regressiven Assimilation bereiten sich die Sprachorgane im voraus zur Artikulation des folgenden Lautes vor. Bei der progressiven Assimilation dagegen verharren dieSprachorgane auf der Artikulation des vorhergehenden Lautes und gehen mit einer gewissen Verspätung zur Artikulation des nächsten Lautes über. Die regressive Assimilation ist deshalb ein Vorgreifen in der Artikulation und wird vorgreifende Anpassung genannt, die progressive Assimilation dementsprechend beharrende Anpassung. Jedoch nicht nur die Richtung, in der die Einwirkung erfolgt, ist von Bedeutung. Wichtig ist dabei auch, in weichem Maße sich das passive Phonem dem aktiven anpaЯt. Wenn sich das passive Phonem dem aktiven vцllig anpaßt, spricht man von einer vollstдndigen Assimilation (Anpassung), z. B. Zimmer aus dem früheren zimber oder das dialektale russische омман aus обман. Das passive Phonem kann sich aber dem aktiven Phonem auch nur teilweise anpassen: in der Stimmlosigkeit, der Stimmhaftig-keit, der Palatalisicrung oder in der Verlegung der Artikulationsstelle. In diesem Falle spricht man von einer teil weisen Assimilation. Teilweise Assimilation sehen wir z. B. in [3 БA3АPЪ] c бaзapa, wo sich das [C] dem folgenden stimmhaften [Б] nach der Stimmhaftigkeit angleicht, oder in ['by:çər] Bücher, wo das Phonem [h] dem vorhergehenden [y:] der Artikulationsstelle nach angepaßt wird. Die teilweise Angleichung kann sich auch nur auf einen Teil des Phonems erstrecken. So verliert z. B. das [z] in [daszεlba-] dasselbe unter dem Einfluß des vorhergehenden [s] nur in der ersten Hälfte seine Stimmhaftigkeit. Die zweite Hälfte des [z] bleibt stimmhaft. Die teilweise Anpassung eines Konsonanten an einen anderen ist wiederum verschiedenartig. Hier unterscheiden wir: a) Anpassungen nach der Stimmlosigkeit, b) Anpassungen nach der Stimmhaftigkeit, c) Anpassungen nach der Palatalisierung und d) Anpassungen nach der Verlegung der Artikulationsstelle. 3.Im Deutschen beobachten wir diese Anpassung im Rahmen einer phonetischen Silbe. Wenn in einer phonetischen Silbe vor einem stimmlosenKonsonanten ein stimmhafter Geräuschlaut steht, so wirdder stimmhafte Konsonant stimmlos ausgesprochen, z. B. [zεl p st] selbst, [za: k st] sagst, [ja:kt] Jagd. Im letzten Beispiel wird das Phonem [d] stimmlos, weil es im Auslaut steht, und das so erhaltene [t] auf das vorhergehende [g] einwirkt. Also gilt hier folgende Regel: Im Deutschen kann vor einem stimmlosen Konsonanten in derselben Silbe kein stimmhafter Geräuschlaut gesprochen werden. Die eben besprochene Art der Assimilation ist eine vorgreifende Anpassung nach der Stimmlosigkeit. Im Deutschen gibt es außerdem noch eine beharrende Anpassung nach der Stimmlosigkeit. Dabei wirkt ein stimmloser Geräuschlaut auf den folgenden stimmhaften Geräuschlaut ein. Diese Erscheinung tritt an Silbengrenzen und an Wortgrenzen auf, z. B. ["aof,bao] Aufbau; [max das "bu:x 'tsu:] Mach das Buch zu! Dabei verliert der stimmhafte Geräuschlaut seine Stimmhaftigkeit nur zum Teil, und zwar in seiner ersten Hälfte. Es entstehen auf diese Weise die sog. halbstimmhaften Varianten (Schattierungen) der stimmhaften Geräuschlaute. 4. Bei der eben besprochenen Anpassung nach der Palatalisierung wird die Grundartikulation des beeinflußten Konsonanten nicht geändert. Es tritt zu der Hauptartikulation nur noch eine Nebenartikulation hinzu. Im Deutschen ist der Ichlaut in [fυrçt] Furcht, ['fυrçə.] Furche, ['lεrçə.] Lerche, [kεlç] Kelch, [zəlç] solch, [mœnç] Mönch, ['fεnçəl] Fenchel durch den Einflußder Vorderzungenlaute [r], [1], [n] zu erklären. In dieser Position wird der Hauchlaut, ähnlich wie nach Vokalen der vorderen Reihe, nach vorn verschoben. Deshalb spricht man den Ichlaut auch in entlehnten Wörtern nach den Vorder-zungenkonsonanten wie z. B. in ['ar'ça:i∫] archaisch, ['tYnçə.] Tünche. Dazu kommen im Deutschen: 1) die Anpassung des Auslauts-n an den vorhergehenden Konsonanten (['le:bm] leben, ['bakŋ] backen); 2) die Anpassung des n an die folgenden k und g ([baŋk] Bank, ['ziŋgu.la:r] Singular); 3) Nasalierung des Verschlußlautes vor Nasalen (abmachen, entnehmen); 4) die laterale Lösung des Verschlusses vor l (Atlas, mittlere); 5) die Verschiebung der Sprengung und Behauchung vom vorhergehenden Verschlußlaut auf den folgenden (Pakth, lobtce). Im Deutschenist hier vor allem auf den Einfluß der Vokale der vorderen Reiheund der Diphthonge [ae] und [כּø] auf die folgenden Hinterzungenkonsonanten hinzuweisen. Dabei wird die Artikulationsstelleder Konsonanten [k], [g] und [ŋ] ein wenig, die des Hauchlautes stark nach vorn verschoben. Bei den Lauten [k], [g], [ŋ] verlängert sich dabei die Verschlußstelle. Am Ende der phonetischen Silbe werden die stimmhaften Geräuschlaute stimmlos. Dieses sog. Auslautsgesetz gilt in der deutschen Sprache als absolut. Auf diese Weise entstehen stimmlose Schattierungen der stimmhaften Phoneme, z. B. [haos] Haus, vgl. ['hכּøzər] Häuser, ['mε:tçən] Mädchen, ['mø:kliç] möglich, ["ap,ziçt] Absicht. Im Wortanlaut unterscheiden sich die deutschen stimmhaften Gcräuschlaute auch etwas nach ihrer Qualität von den stimmhaften Geräuschlauten mitten im Wort. Wenn man z. B. das Wort dann spricht, so ist der Anfang des Konsonanten [d] stimmlos, weil die Stimmbänder mit einer kleinen Verspätung zu vibrieren beginnen. Dagegen ist das [d] im Wort edel ganz stimmhaft, denn es steht zwischen zwei „stimmhaften" Lauten. In diesem Falle vibrieren die Stimmbänder im ganzen Verlauf des [d]. Im isoliert gesprochenen Wort dann nennen wir das [d] halbstimmhaft, denn es klingt dem [d] in ['haos,dax] Hausdach ähnlich. Die Qualität der deutschen Vokalphoneme wird durch ihre Anfangsstellung in betonten Präfix- und Stammsilben beeinflußt. In dieser Stellung werden die Vokale mit dem neuen Einsatz gesprochen: ["υn,’εçt] unecht, [ru."i:nə.] Ruine. In unbetonten Stammsilben und in Suffixen bleibt der neue Einsatz aus: [ru.i.'ni:rən] ruinieren, ['baoər] Bauer. Es ist deshalb nicht richtig, wenn man sagt, der vokalische Anlaut der Silbe werde im Deutschen immer mit festem Einsatz gesprochen.
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