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Deutscher Wortakzent





1. Physische Eigenschaften des deutschen Wortakzents.

2. Verteilung des Akzents im deutschen Wort.

3. Die wichtigsten Modelle des deutschen Wortakzents.

4. Funktionen des deutschen Wortakzents.

1.Unter Wortakzent oder Wortbetonung verstehen wir die artikulatorisch-akustische Hervorhebung einer Silbe im isolier­ten Wort und gleichzeitig die artikulatorisch-akustische Gestal­tung der übrigen Silben in zwei- und mehrsilbigen Wörtern hin­sichtlich des Akzentgrades. Es handelt sich somit bei der Bestim­mung des Wortakzents nicht nur um die Festlegung der Kernsilbe mit der Hauptbetonung, sondern auch um die Verteilung des Akzentgewichts auf die übrigen Silben des Wortes. Dem Akzentge­wicht oder Akzentgrad nach können vier Arten von Silben unter­schieden werden: Silben mit Hauptbetonung (Kernsilben), Silben mit Nebenbetonung, unbetonte starke und unbetonte schwache Silben. Zu den unbetonten schwachen Silben gehören im Deut­schen Silben mit dem Endungs-e, Suffixe mit dem reduzierten [ə] oder [ə.], die Präfixe be-, ge-: su- che, spra- chen, sag- te, be -kam, Ge -wicht. Alle übrigen unbetonten Silben sind unbetont stark: le -ben- dig, Frei- heit. Im Wort Hauptbetonung liegt der Hauptakzent auf Haupt-, der Nebenakzent auf -to-, -ung ist eine starke, - be eine schwache unbetonte Silbe. Experimentelle Untersuchungen zeigen, daß bei der Hervorhebung von Silben mit Hauptbetonung drei Faktoren beteiligt sind: die Intensität (dynamische Kraft), die Tonhöhe und die Dauer. Jedoch können diese drei Fak­toren in verschiedenen Sprachen verschiedene Rangstellungen ein­nehmen. Wenn die leitende Rolle der Intensität zukommt, spricht man von dynamischem Akzent. Überwiegt die Rolle der Tonhöhe, so spricht man von musikalischem Akzent. Die Dauer tritt meistenteils als Begleiterscheinung der ersten beiden Faktoren auf.

Den deutschen Wortakzent bezeichnet man gewöhnlich als dy­namisch-musikalisch. Wie in den meisten indoeuropäischen Sprachen steht hier der dynamische Druck mit einer entsprechen­den Verstärkung des Atemdrucks und einer Präzisierung der Ar­tikulation an erster Stelle. Die Tonhöhe tritt als Begleiterschei-

nung auf und hat keine differenzierende Bedeutung wie etwa im Chinesischen und in anderen Sprachen Asiens und Afrikas.

2.Nach der Distribution (Verteilung) des Akzents im Wort unter­scheidet man gewöhnlich zwei Arten von Wortbetonung: freie und gebundene. Gebunden ist die Wortbetonung, wenn die Silbe mit der Hauptbetonung im Wort eine bestimmte Stelle ein­nimmt: die erste, wie im Tschechischen, Lettischen u. a. Sprachen, die letzte, wie im Türkischen usw., die vorletzte, wie im Polnischen. Frei ist sie, wenn in verschiedenen Wörtern der Sprache verschie­dene Silben Akzentträger sein können und durch morphologische und etymologische Veränderungen die Hauptbetonung von einer Silbe des Wortes auf eine andere übertragen werden kann: логово,вopонa, борода, голова-голову, стол-столу.

Das Interesse für neue Bezeichnungen und Erklärungen ver­schiedener Wortakzente hat seinen Grund in der unzureichenden Charakteristik der Wortbetonung mancher Sprachen durch die Ter­mini frei und geb und en. Auch die deutsche Wortbetonung kann nicht genau mit diesen Termini gekennzeichnet werden. W. M. Shirmunsky unterstreicht z. B. den gebundenen Charakter der deut­schen Wortbetonung und nennt sie unbeweglich (неподвижное ударение). Aber das stimmt nicht immer. Vgl. 'umschreiben, um'schreiben, Schreibe'rei. Hier ist die Betonung beweglich. O. N. Nikonowa, L. R. Sinder und T. W. Strojewa nennen daher die deut­sche Wortbetonung frei. Aber sie ist nicht so frei wie im Rus­sischen, denn sie kann weder auf grammatischen Endungen und formbildenden Affixen noch auf untrennbaren Präfixen und deut­schen nicht entlehnten Suffixen stehen, wenn wir von der Hauptbetonung sprechen.

3.Wenn die deutsche Wortbetonung in einem beliebigen Wort ein unddieselbe Stelle einnehmen würde, gäbe es nur ein Akzentmo­dell. Wäre sie völlig frei, so ständen der Regelung große Hinder­nisse im Weg. Wie z. B. im Russischen, wo es im Volkslied heißt: Уж как зелено, зелено, зелено!

Da der deutsche Wortakzent aber morphemgebunden ist, kann er geregelt und in einigen Grundmodellen dargestellt werden.

Es können sieben Grundmodelle des deutschen Wortakzents unter­schieden werden.

1. [—]: Hand, bald, und, du, zehn. Alle einsilbigen Wörter werden in der isolierten Aussprache auf diese Weise betont.

2- [—.]: Vater, lesen, aber, ehe. Alle zweisilbigen Wörter mit einem reduzierten e -Laul in derzweiten Silbe werden nach diesem Modell betont.Als Variantendes Modells gelten:

a) [— . . ]: lesende, eigene,unsere,

b) [— —]: Zeltung,emsig, freilich,

c) [— — . ]: Zeitungen, emsige, sдmtliche.

3. [— —]: Tischtuch, Aufbau, Wirtschaft, Arbeit, Kino, Je­na, Moskau. Nach diesem Modell werden zusammengesetzte, abgeleiteteund einfache Wörter betont. Für die zusammengesetzten Wörterist dabei kennzeichnend, daß das Bestimmungswort an der erstenStelle steht, für die abgeleiteten Wörter, daß am Anfang ein trennbares Präfix oder aber am Ende ein Suffix mit Nebenbe­tonung steht, für einfache Wörter, daß die letzte Silbe einen volltönenden Vokal enlhält.

Varianten dieses Modells sind:

a) [— — . ]: Tischtücher, aufbauen, arbeiten, Moskauer,

b) [— — — . ]: Anmerkungen, anfertigen, vorzügliche,

c) [— — . . ]: arbeitende, vorbeugende,

d) [— — —]: Weltfestspiel, Fünfjahrplan (aus rhythmischen Grün­den wird in diesen dreigliedrigen Zusammensetzungen die Neben­betonung auf die letzte Silbe verlegt),

e) [— — — —]: Fußbaltwettspiel, Hochbaufahrstuhl,

f) [— .. ]: Sommermantel, Himmelsgegend.

 

4. [. —]: Betrieb, Gewinn, bekannt, genau. Das Modell gilt fürzweisilbige Wörter mit den Präfixen be-, ge-. Varianten des Modells sind:

a) [. —. ]: Betriebe, gewinnen, bekannte, genaue,

b) [. —..]: gewonnene, beginnende.

[— — ]: Empfang, Verlust, erkämpft, bergauf, hinab, Jahr­zehnt, aktiv, Union, Natur. Das Modell gilt für abgeleitete Wör­ter mit untrennbaren Präfixen, die unbetonte starke Silben bilden, für zusammengesetzte Adverbien, für substantivische Zusammenset­zungen, in denen das Bestimmungswort an der zweiten Stelle steht,
für deutsche Wörter mit entlehnten Suffixen oder Lehnwörter. Als Varianten dieses Modells gelten:

a) [— — — ]: Lieferant, Heuchelei, Pianist, Aspirant, Institut, Agronom, Photograph, parallel, Sekretär,

b) [— — — —]: Revolution, Philosophie, Literatur,

c) [— — — — —]: Universität, revolutionär,

d) [— — . ]: empfangen, erkämpfen, Jahrhundert, Juristen,

e) [— — — . ]: Kommunisten, Dirigenten,

f) [— — . .]: Jahrhunderte, eroberte, verschwundene.

6. [— —]: blutjung,Nord-Ost, rotweiß. Nach diesem Modell werden zusammengesetzte Verstärkungsadjektive und kopulative Zusammensetzungen betont. Varianten des Modells:

a) [— — — ]: deutsch-russisch, nord-östlich,

b) [— — .]: stockfinster, eiskalte,

c) [— . —]: himmelhoch, glänzendweiß;,

d) [— .. ]: Baden-Baden, glänzendweiße,

e) [— — — — ]: russisch-polnisch, finnisch-schwedisch.

7.[— — —]: Karl-Marx-Stadt, südostwärts. Nach diesem Mo­dell betont man mehrfache Zusammensetzungen, in denen der be­stimmende Teil als Wortgruppe auftritt oder eine kopulative Zu­sammensetzung bildet. Varianten des Modells:

a) [— ... ]: Oder-Neiße-Grenze,

b) [— — — — — —]: Moskwa-Wolga-Kanal,

c) [— — . — — . —]: Arbeiter-und-Bauern-Staat.

Der deutsche Wortschatz ist somit nach dem Wortakzent in sie­ben Grundmodelle einzuteilen, von denen die ersten drei Anfangs­betonung haben. Die übrigen vier haben End-und Innenbetonung. Vorherrschend scheint die Anfangsbetonung zu sein, die alle einfa­chen Wörter betrifft (mit Ausnahme von Forelle, Holunder, Wacholder, Hermelin), Zusammensetzungen mit Unterordnung, in denen das Bestimmungswort an der ersten Stelle steht, und Ableitungen, die mit dem Stammorphem oder einem trennbaren Präfixmorphem be­ginnen.

 

4. Drei wichtige sprachliche Funktionen erfüllt der deutsche Wort­akzent: eine kulminative (gipfelbildende), eine dernarkative (abgrenzende) und eine distinktive (differenzierende).

Die kulminative Funktion des deutschen Wortakzents kommt in seiner zentralisierenden Einwirkung zum Ausdruck. Nur eine Silbe ist im Wort Träger des Hauptakzents. Es gibt im Deutschen kein Wort, das zwei Hauptakzente hätte. Zwar wurde von vielen Phonetikern angenommen, daß verstärkende Adjektivzu­sammensetzungen und kopulative substantivische Zusammensetzun­gen der deutschen Sprache eine gleich starke (schwebende) Beto­nung auf beiden Elementen haben. Neue experimentelle Untersu­chungen erwiesen jedoch, daß auch in diesen Wörtern eine Kern­silbe den Hauptton trägt: eiskalt [— — ], Süd-West [— — ].

Die neben- und unbetonten Silben des Wortes sind der Kern­silbe mit der Hauptbetonung unterordnet. Je stärker, deutlicher, exakter wir die akzentucll leitende Silbe hervorheben und entspre­chend artikulieren, desto weniger Aufmerksamkeit schenken wirden übrigen Silben, desto stärker ist die Reduktion in diesen Silben. Lange Vokalphoneme verlieren an Dauer, stimmlose Ver­schlußlaute verlieren am Grade der Behauchung, stimmlose Enge­laute an Geräusch. Manche Vokalphoneme werden nicht nur quan­titativ, sondern auch qualitativ reduziert oder elidiert (sehensehn, wollenwolln). Dies ist das Resultat der zentralisierenden: Wirkung des Hauptakzents, der kulrninativcn Funktion des Wort­akzents.

Die demarkative Funktion der deutschen Wortbetonung äußert sich darin, daß die akzenttragende Silbe meistenteils am Anfang des Wortes steht und deshalb ein Grenzsignal darstellt, das auf den Anfang des Wortes hinweist. Oder aber steht die ak­zenttragende Silbe am Ende des Wortes und weist dann wiederum als Grenzsignal auf das Ende des Wortes. Selbst da, wo wir im Den Ischen Innenbetonung haben, ist es möglich durch die Analy­se derQualität der unbetonten Silbe, die vor der hauptbetonten Silbe steht,den Anfang des Wortes zu bestimrnen, denn es stehen hier in derRegel nur untrennbare Präfixe. Andererseits weisen Huf das Ende des Wortes, falls hier keine betonte Silbe steht, die reduziertene-Laute.

Da die deutsche Wortbetonung morphemgebunden ist, kann sie nur in geringem Maße als distinktives Sprachmittel dienen. Jedoch gibt es eine bedeutende Anzahl von Oppositionspaaren, in denen sich die Glieder durch verschiedene Betonung und verschiedene Bedeutung unterscheiden. Vor allem gehören hierher Ableitungen mit den Präfixen über-, unter-, durch-, um-, wieder-, die bekannt­lich trennbar und untrennbar gebraucht werden kцnnen und einmal betont, das andere Mal unbetont sind: 'übersetzenüber'setzen, 'wiederholenwieder'holen, 'durchschauendurch'schauen.

Differenzierend wirkt der Wortakzent weiterhin in solchen Wörtern wie 'steinreichstein'reich, 'blutarmblut'arm, 'AugustAu'gust, 'alle — Al'lee, 'armeAr'mee, 'Kaffee — Ca'fe, 'GenusGe'nuß, 'Aktivaktiv, 'Passivpas'siv, 'gebet — Ge'bet u. ä.

Wortpaare wie 'daherda'her, 'damitda'mit, 'dahin — da'hin, 'darum — da'rum unterscheiden sich in der Regel auch inhaltlich, z. B. Er verstärkte seine Stimme, 'damit gelang es ihm, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.Er verstärkte seine Stimme, da'mit man ihn besser höre.

 

 







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