Ihr habt sicher bemerkt, dass es keine anderen Kinder im Haus gab.
Die Hubermanns hatten zwei eigene Kinder, aber sie waren schon erwachsen und längst ausgezogen. Hans Hubermann junior arbeitete in der Münchener Innenstadt, und Trudi hatte eine Anstellung als Hausgehilfin. Bald schon würden beide in den Krieg ziehen. Die eine würde Munition herstellen, der andere damit schießen. Wie ihr euch vorstellen könnt, war die Schule eine absolute Katastrophe. Obwohl es eine staatliche Schule war, herrschte dort ein strenger katholischer Geist, und Liesel war Protestantin. Keine guten Voraussetzungen. Dann fand man heraus, dass sie weder lesen noch schreiben konnte. Zu ihrer Beschämung steckte man sie zu den kleinen Kindern, die gerade erst das Alphabet lernten. Obwohl sie dünn und bleich war, fühlte sie sich wie ein Riese inmitten von madengroßen Wichteln, und oft wünschte sie sich, dass sie noch blasser wäre und ganz verschwinden könnte. Auch zu Hause konnte sie keine Unterstützung erwarten. »Den musst du gar nicht erst fragen«, sagte Mama.»Den Saukerl.«Papa starrte aus dem Fenster, wie so oft.»Der hat die Schule nach der vierten Klasse verlassen.« Ohne sich umzudrehen, erwiderte Papa mit ruhiger, aber giftiger Stimme:»Nun, sie musst du aber auch nicht fragen.«Er schnickte etwas Asche aus dem offenen Fenster.»Sie ist schon nach der dritten Klasse abgegangen.« Im Hause Hubermann gab es keine Bücher (außer dem einen, das Liesel unter ihrer Matratze versteckte), und alles, was sie tun konnte, war, das Alphabet leise vor sich hinzumurmeln, bis man ihr unmissverständlich klarmachte, dass sie gefälligst den Mund halten sollte. Das ganze Gemurmel und Gebrummel. Erst später, als es zu einem bettnässenden Albtraum gekommen war, nahm ein außergewöhnlicher Nachhilfeunterricht im Lesen seinen Anfang. Inoffiziell wurde er»Mitternachtsklasse«genannt, obwohl er gewöhnlich erst gegen zwei Uhr morgens begann. Aber davon später mehr.
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