EINE ERINNERUNG
O ja, ich erinnere mich an ihn, ganz genau. Der Himmel war schlammbraun und dick wie Treibsand. Da war ein junger Mann, eingepackt in Stacheldraht, wie eine riesige Dornenkrone. Ich wickelte ihn aus und trug ihn weg. Hoch über der Erde sanken wir gemeinsam auf die Knie. Es war irgendein Tag, 1918. »Abgesehen von allem anderen«, sagte sie,»ist er erfroren.«Einen Augenblick lang spielte sie mit ihren Händen, und dann sagte sie noch einmal:»Er ist erfroren, da bin ich mir ganz sicher.« Die Frau des Bürgermeisters war nur eine aus einer weltumspannenden Brigade. Ihr alle seid ihr schon begegnet, ganz bestimmt. In euren Geschichten, euren Gedichten, auf den Bildschirmen, in die ihr so gerne seht. Sie sind überall, warum also nicht auch hier? Warum nicht hier oben, auf einem hübsch anzusehenden Hügel in einer deutschen Kleinstadt? Der Ort ist zum Leiden ebenso gut wie jeder andere. Der Punkt ist, dass Ilsa Hermann beschlossen hatte, aus ihrem Leiden einen Triumph zu machen. Als die Qual sich weigerte, von ihr zu lassen, ergab sie sich ihr. Sie hieß sie willkommen. Sie hätte sich erschießen, sich das Gesicht zerkratzen oder sich anderen grausamen Formen der Selbstverstümmelung hingeben können, aber sie wählte diejenige, die möglicherweise die schwächste von allen war - sie entschied, dass sie wenigstens die Unbequemlichkeit des Wetters ertragen müsse. Liesel hätte wetten können, dass sie sich nur kalte und nasse Sommertage wünschte. Und in dieser Beziehung lebte sie genau am richtigen Ort, meistens jedenfalls. Als Liesel an diesem Tag das Haus des Bürgermeisters verließ, sagte sie etwas, mit großem Unbehagen. Vier große Worte lieferten sich einen Kampf, sprangen auf ihre Schulter und fielen als unordentliches Quartett vor Ilsa Hermanns Füße. Sie purzelten seitlich von Liesel herab, weil sich das Mädchen unter ihrer Last neigte und sie nicht länger halten konnte. Gemeinsam kauerten sie auf dem Boden, groß und laut und ungeschickt.
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