Ja, du darfst.
Der Raum schrumpfte, bis die Bücherdiebin die Regale mit ein paar kleinen Schritten erreichen konnte. Sie fuhr mit dem Handrücken das erste Regal entlang und lauschte dem rhythmischen Ticken, das ihre Fingernägel auf den abgerundeten Buchrücken verursachten. Es klang wie ein Instrument, das Geräusch rennender Füße. Sie nahm beide Hände. Sie veranstaltete ein Wettrennen. Ein Regal gegen das nächste. Und sie lachte. Ihre Stimme entfaltete sich, hing hoch in ihrer Kehle, und als sie endlich aufhörte und mitten im Raum stehen blieb, verbrachte sie einige Minuten damit, zwischen den Regalen und ihren Fingern hin und her zu schauen. Wie viele Bücher hatte sie berührt? Wie viele hatte sie gefühlt? Sie ging wieder hin und tat es noch einmal, diesmal viel langsamer, diesmal die Handfläche den Büchern zugewandt, ließ sich von der kleinen Hürde eines jeden Buchs das Fleisch ihrer Hand verschieben. Es fühlte sich an wie ein Zauber, wie Schönheit, getaucht in strahlende Linien aus Licht von einem Kronleuchter. Mehr als einmal hätte sie fast ein Buch von seinem Platz genommen, aber sie wagte nicht, sie zu stören. Sie waren einfach vollkommen. Zu ihrer Linken sah sie wieder die Frau, die neben einem großen Schreibtisch stand und immer noch den kleinen Bücherturm gegen ihren Leib gelehnt hielt. Sie stand da mit einer entzückten Gebeugtheit. Ein Lächeln schien ihre Lippen gelähmt zu haben. »Wollen Sie, dass ich...?« Liesel vollendete die Frage nicht, sondern tat, was sie hatte fragen wollen. Sie ging zu der Frau und nahm ihr die Bücher behutsam aus den Armen. Sie stellte sie in das fehlende Stück in einem der Regale, neben dem halb geöffneten Fenster. Von draußen zog Kälte herein. Einen Augenblick lang spielte sie mit dem Gedanken, es zu schließen, doch dann besann sie sich. Dies war nicht ihr Haus, und der Zauber des Moments durfte nicht zerstört werden. Alles musste so bleiben, wie es war. Stattdessen wandte sie sich zu der Dame um, deren Lächeln nun den Anschein einer Wunde hatte und deren Arme schlank an den Seiten des Körpers herabhingen. Wie die Arme eines Mädchens. Was nun? Unbehagen verschaffte sich Zugang zu dem Raum, und Liesel schenkte den Wänden aus Büchern einen letzten, fliehenden Blick. In ihrem Mund zappelten die Worte und kamen dann in einem Schwall heraus:»Ich muss gehen.« Sie brauchte drei Anläufe, bevor sie den Raum verließ. In der Diele wartete sie ein paar Minuten, aber die Frau kam nicht nach. Liesel kehrte zu der Tür zurück und sah sie an dem Schreibtisch sitzen, wo sie mit leerem Blick eines der Bücher anstarrte. Liesel beschloss, sie nicht zu stören. Zurück in der Diele, hob sie den Wäschesack vom Boden. Diesmal umging sie den wunden Punkt in den Bodendielen, durchschritt die gesamte Länge des Korridors, wobei sie sich nahe der linken Wand hielt. Als sie die Haustür hinter sich schloss, traf ein Geräusch von Messing auf Messing ihr Ohr, und mit dem Wäschesack in der einen Hand streichelte sie mit der anderen das hölzerne Fleisch der Tür.»Los jetzt«, sagte sie sich. Zunächst ging sie wie in Trance. Das unwirkliche Erlebnis des Raums voller Bücher und der benommenen, gebrochenen Frau ging neben ihr her. Sie konnte das Bild auf den Gebäuden sehen, an denen sie vorbeikam, wie die Szenen eines Theaterstücks. Vielleicht war das, was sie fühlte, vergleichbar mit dem, was Papa in Bezug auf Mein Kampf empfunden hatte. Wo immer sie auch hinschaute, sah Liesel die Frau des Bürgermeisters mit dem Bücherstapel in den Armen. Wenn sie um Ecken bog, hörte sie das Streichen ihrer eigenen Hände, die die Regale aus dem Schlaf holten. Sie sah das offene Fenster, das herrliche Licht des Kronleuchters, und sie sah sich selbst, wie sie ohne ein Wort des Dankes das Haus verließ. Bald schon wandelte sich ihre Betäubung in Verachtung gegen sich selbst. Sie fing an, sich für ihr Verhalten zu tadeln. »Du hast nichts gesagt.«Zwischen den eiligen Schritten schüttelte sie ihren Kopf heftig von einer Seite zur anderen.»Nicht ‚Auf Wiedersehen‘ Nicht ‚Danke schön‘. Nicht ‚Das ist das Schönste, was ich je gesehen habe‘. Nichts!«Sie war zwar eine Bücherdiebin, aber das hieß nicht, dass sie keine Manieren hatte. Es hieß nicht, dass sie nicht höflich sein musste. Sie ging ein paar Minuten lang weiter und kämpfte mit der Unentschlossenheit. Auf der Münchener Straße war der Kampf zu Ende. Gerade als sie das Schild ausmachen konnte, auf dem stand»Steiner - Schneidermeister«, drehte sie sich um und rannte zurück. Diesmal zögerte sie nicht. Sie hämmerte gegen die Tür und schickte ein Echo aus Messing durch das Holz. Scheiße. Nicht die Frau des Bürgermeisters, sondern der Bürgermeister selbst stand vor ihr. In ihrer Hast hatte Liesel das Auto übersehen, das vor dem Haus auf der Straße stand. Angetan mit einem Schnurrbart und einem schwarzen Anzug, fragte der Mann:»Was kann ich für dich tun?« Liesel konnte nicht sprechen. Noch nicht. Sie krümmte sich, schnappte nach Luft, und glücklicherweise kam die Frau an die Tür, als Liesel sich ein wenig erholt hatte. Ilsa Hermann stand hinter ihrem Mann, etwas abseits. »Ich habe vergessen...«Sie hob den Sack und sah die Frau des Bürgermeisters an. Trotz ihres schweren Atems reichte sie die Worte durch die Lücke zwischen dem Bürgermeister und dem Türstock hindurch. Das Atmen machte ihr solche Mühe, dass die Worte ihr nur stoßweise entschlüpften.»Ich habe vergessen... Ich meine, ich wollte... wollte nur«, sagte sie,»nur... Danke sagen.« Wieder verwundete die Frau ihr Gesicht mit einem Lächeln. Sie trat vor, stellte sich neben ihren Mann, nickte ganz leicht, wartete und schloss dann die Tür.
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