RUDIS STIMME
»Ich hab's absichtlich gemacht.« Nachdem sie den Inhalt des Geständnisses begriffen hatte, stellte Liesel die einzige Frage, die sie parat hatte:»Aber warum, Rudi? Warum hast du das getan?« Er stand da, mit einer Faust in die Hüfte gestemmt, und gab ihr keine Antwort. Nichts außer einem wissenden Lächeln und ein paar langsamen Schritten, die ihn nach Hause trieben. Sie sprachen nie wieder darüber. Dennoch fragte sich Liesel oft, wie Rudi geantwortet hätte, hätte sie ihn gedrängt. Vielleicht, dass drei Medaillen ausreichend seien, um zu beweisen, was er hatte beweisen wollen. Oder dass er Angst gehabt habe, dieses letzte Rennen zu verlieren. Am Ende schenkte sie einer jungen Stimme Gehör, die aus ihrem Innern kam. »Weil er nicht Jesse Owens ist.« Erst als sie vom Bürgersteig aufstand, sah sie die drei unechten Goldmedaillen neben sich liegen. Sie klopfte an die Tür der Steiners und hielt Rudi die Medaillen entgegen.»Die hast du vergessen.« »Nein, habe ich nicht.«Er machte die Tür zu, und Liesel nahm die Medaillen mit nach Hause. Sie brachte sie hinunter in den Keller und erzählte Max von ihrem Freund Rudi Steiner. »Er ist wirklich dumm«, sagte sie abschließend. »Zweifellos«, stimmte Max zu,»aber ich glaube nicht, dass er sich zum Narren halten ließ.« Dann arbeitete Max an seinem Skizzenbuch weiter, während Liesel den Traumträger las. Sie war schon im letzten Drittel angelangt, in dem der junge Priester an seinem Glauben zu zweifeln beginnt, nachdem er eine fremde und elegante Dame kennengelernt hat. Sie legte das Buch mit den aufgeschlagenen Seiten nach unten in ihren Schoß. Max fragte, wann sie glaube, damit fertig zu sein. »In ein paar Tagen.« »Und dann? Ein neues Buch?« Die Bücherdiebin schaute hinauf zur Kellerdecke.»Vielleicht, Max.«Sie schlug das Buch zu und lehnte sich zurück.»Wenn ich Glück habe.« DAS NÄCHSTE BUCH Es ist nicht das Duden Bedeutungswörterbuch, wie ihr vielleicht erwartet habt. Nein, das Wörterbuch kommt erst am Ende dieser kleinen Trilogie zum Zuge, und derzeit befinden wir uns im zweiten Teil. Dies ist der Abschnitt, in dem Liesel den Traumträger zu Ende liest und eine Geschichte mit dem Titel Ein Lied im Dunkeln stiehlt. Wie immer stammte sie aus dem Haus des Bürgermeisters. Der einzige Unterschied war, dass sie diesmal allein dorthin ging. Rudi war an diesem Tag nicht bei ihr.
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