Der zehnte Leutnant.
Wie so oft fühlte sie sich von etlichen dieser Titel in Versuchung geführt, aber nach ein oder zwei Minuten entschied sie sich für Ein Lied im Dunkeln, wahrscheinlich weil das Buch grün war und sie noch kein Buch in dieser Farbe besaß. Die geprägte Schrift auf dem Einband war weiß, und zwischen Titel und Autor befand sich das Bild einer kleinen Flöte. Mit dem Buch kletterte sie aus dem Fenster und bedankte sich dabei lautlos. Normalerweise fehlte ihr etwas, wenn Rudi nicht da war, aber an diesem besonderen Morgen war die Bücherdiebin aus irgendeinem Grund lieber allein. Sie ging zur Amper, setzte sich ans Ufer - weit genug von dem üblichen Treffpunkt von Viktor Chemmel und Arthur Bergs ehemaliger Bande entfernt - und las. Niemand kam vorbei, niemand störte sie, und Liesel las vier der sehr kurzen Kapitel von Ein Lied im Dunkeln. Sie war glücklich. Es war das Vergnügen und die Befriedigung. Über einen gelungenen Diebstahl. Eine Woche später war die Trilogie des Glücks komplett. In den letzten Augusttagen wurde ihr ein Geschenk gemacht, oder besser gesagt: Das Geschenk wurde bemerkt. Es war später Nachmittag. Liesel schaute Kristina Müller beim Seilspringen auf der Himmelstraße zu. Rudi Steiner kam schlitternd auf dem Fahrrad seines Bruders vor ihr zum Stehen.»Hast du Zeit?«, fragte er sie. Sie zuckte mit den Schultern.»Wofür?« »Ich glaube, du solltest mitkommen.«Er legte das Fahrrad ab und ging nach Hause, um ein zweites zu holen. Liesel betrachtete die kreiselnden Pedale vor ihren Füßen. Sie fuhren die Große Straße hinauf. Rudi hielt an und wartete.»Und?«, fragte Liesel.»Was ist denn?«Rudi deutete mit dem Finger.»Schau genau hin.« Sie schoben sich näher, um einen besseren Blick zu haben, und versteckten sich hinter einer Blautanne. Durch die stacheligen Zweige sah Liesel das angelehnte Fenster und dann einen Gegenstand hinter der Glasscheibe. »Ist das...?«
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