Er geht stehlen.
In Windeseile war sie draußen. Sie verschwendeten keine Zeit mit Begrüßungen. Rudi ging einfach weiter und redete mit der kalten Luft vor seinem Mund. In der Nähe des Mietshauses, in dem Tommi Müller wohnte, sagte er:»Weißt du was, Liesel? Ich habe nachgedacht. Du bist gar kein Dieb.«Er ließ sie nicht zu Wort kommen.»Die Frau lässt dich herein. Sie stellt dir sogar Plätzchen hin, Himmel nochmal. Das kann man doch wohl kaum Stehlen nennen. Stehlen, das ist, was die Wehrmacht tut. Nimm zum Beispiel deinen Vater, und meinen.«Er trat gegen einen Stein, der metallisch klingend gegen ein Tor prallte. Rudi ging schneller.»All diese reichen Nazis da oben, in der Großen Straße, in der Gelbstraße, in der Heidestraße.« Liesel brachte all ihre Konzentration auf, um mit ihm Schritt zu halten. Sie hatten Frau Lindners Eckladen schon hinter sich gelassen und waren in der Münchener Straße.»Rudi...« »Was ist das überhaupt für ein Gefühl?« »Was meinst du?« »Wenn du eines von den Büchern nimmst?« In diesem Moment schwieg sie. Wenn er eine Antwort wollte, musste er hartnäckiger sein. Er war es.»Na?«Aber noch bevor Liesel überhaupt den Mund aufmachen konnte, antwortete Rudi selbst:»Es ist ein gutes Gefühl, nicht wahr? Etwas zu stehlen, was einem eigentlich gehört.« Liesel zwang ihre Aufmerksamkeit auf den Werkzeugkasten, und sie versuchte, ihn zu bremsen.»Was hast du da drin?« Er beugte sich vor und öffnete den Kasten. Alle Gegenstände ergaben einen Sinn, bis auf den Teddybären. Während sie weitergingen, erklärte Rudi, was er mit den Gegenständen im Werkzeugkasten tun wollte. Die Hämmer zum Beispiel dienten zum Einschlagen von Fenstern. Das Handtuch wickelte man vorher darum, damit der Lärm gedämpft wurde. »Und der Teddybär?« Er gehörte Anna-Marie Steiner und war nicht größer als eines von Liesels Büchern. Der Pelz war zottelig und abgeschabt. Die Augen und Ohren waren mehrmals neu angenäht worden, aber er schaute dennoch freundlich drein. »Das«, so verkündete Rudi,»ist mein Geniestreich. Wenn ein Kind reinkommt, während ich im Haus bin, kann ich ihm den Teddy geben, um es zu beruhigen.« »Und was willst du stehlen?« Er zuckte mit den Schultern.»Geld, Lebensmittel, Schmuck. Alles, was ich kriegen kann.«Es hörte sich ganz einfach an. Erst fünfzehn Minuten später, als Liesel die plötzliche Stille in seinem Gesicht bemerkte, begriff sie, dass Rudi Steiner überhaupt nichts stehlen würde. Die Entschlossenheit war verschwunden, und obwohl er sich nach wie vor im Glorienschein seines Vorhabens sonnte, erkannte sie, dass er nicht mehr daran glaubte. Er versuchte zu glauben, und das ist immer ein schlechtes Zeichen. Seine verbrecherische Grandeur zerfiel vor ihren Augen. Ihre Schritte verlangsamten sich, und sie betrachteten die Häuser. Liesels Erleichterung saß rein und traurig in ihrem Herzen. Sie waren in der Gelbstraße. Überall ragten die Häuser dunkel und groß empor.
|