An der Kreuzung blieb sie stehen.
»Ich weiß was.« Sie überquerten den Fluss und stiegen den Hügel hinauf. In der Großen Straße bewunderten sie die Pracht der Häuser. Die Eingangstüren waren poliert, sodass sie glänzten, und die Dachziegel saßen auf den Gebäuden wie Toupets, die makellos frisiert waren. Die Wände und Fenster wirkten manikürt, und es hätte niemanden verwundert, wenn die Schornsteine vollkommene Rauchkringel ausgeblasen hätten. Rudi stand breitbeinig da.»Das Haus des Bürgermeisters?«, fragte er. Liesel nickte ernst. Eine Pause.»Sie haben meine Mama entlassen.« Als sie darauf zuschlichen, fragte Rudi, wie in Gottes Namen sie ins Haus kommen sollten, aber Liesel wusste es genau.»Ortskenntnis«, sagte sie.»Orts...«Aber als sie das Fenster in der Bibliothek am Ende des Hauses erblickten, erwartete Liesel ein Schock. Das Fenster war geschlossen. »Nun?«, fragte Rudi. Langsam drehte sich Liesel um und hastete dann davon.»Heute nicht«, sagte sie. Rudi lachte.»Wusst ich's doch.«Er holte sie ein.»Wusst ich's doch, Saumensch. Du könntest da nicht reinkommen, selbst wenn du einen Schlüssel hättest.« »Halt den Mund!«Sie beschleunigte ihre Schritte zusehends und wischte Rudis Kommentar beiseite.»Wir müssen einfach den richtigen Zeitpunkt abwarten.«Innerlich rückte sie von einem Gefühl der Erleichterung ab, das aufgekommen war, als sie gesehen hatte, dass das Fenster geschlossen war. Sie schalt sich im Stillen. Warum, Liesel?, fragte sie sich. Warum nur musstest du so in die Luft gehen, als sie Mama gefeuert haben? Warum hast du nicht deinen Mund gehalten? Wahrscheinlich hast du der Frau des Bürgermeisters so den Kopf gewaschen, dass sie sich besonnen, sich zusammengerissen hat und jetzt wieder völlig normal ist. Vielleicht wird sie nie mehr zulassen, dass sie in diesem Haus friert, und das Fenster wird für immer geschlossen sein. Saumensch, du blödes! Aber eine Woche später, bei ihrem fünften Besuch im oberen Molching, stand das Fenster offen. Eine Scheibe Luft wurde ins Haus geatmet. Das war alles, was nötig war. Es war Rudi, der zuerst stehen blieb. Er versetzte Liesel mit dem Handrücken einen Klaps gegen die Rippen.»Ist dieses Fenster«, flüsterte er,»tatsächlich offen?«Der Eifer in seiner Stimme lehnte sich aus seinem Mund wie ein Unterarm auf Liesels Schulter. »Jawohl«, antwortete sie,»das ist es.« Und wie ihr Herz zu hämmern begann! Bei ihren früheren Besuchen, als sie das Fenster jedes Mal fest verschlossen vorgefunden hatten, hatte Liesels offensichtliche Enttäuschung die heftige Erleichterung in ihrem Herzen verborgen. Hätte sie den Mut gehabt, durch das Fenster zu steigen? Und weswegen wollte sie überhaupt dort hinein? Um Essen zu stehlen? Nein, die widerwärtige Wahrheit sah folgendermaßen aus: Lebensmittel waren ihr egal. Rudi spielte bei der ganzen Sache nur eine nebensächliche Rolle, auch wenn sie sich das nur schwer eingestehen konnte. Was sie wollte, war das Buch. Der Pfeifer. Sie konnte es nicht ertragen, dass diese einsame, erbärmliche Frau es ihr schenkte. Es zu stehlen schien ihr akzeptabler zu sein. Wenn sie es stahl, dann hatte sie irgendwie -merkwürdigerweise - das Gefühl, es sich verdient zu haben. Das Licht wandelte sich zu Blöcken aus Schatten. Die beiden näherten sich dem prächtigen, klobigen Haus, als würden sie davon angezogen werden. Kurz tauschten sie ihre Gedanken aus. »Hunger?«, fragte Rudi. Liesel erwiderte:»Bärenhunger.«Auf ein Buch. »Schau mal - oben wurde gerade das Licht eingeschaltet.« »Ich hab's gesehen.« »Immer noch hungrig, Saumensch?« Nervös lachten sie kurz auf, ehe sie besprachen, wer hineingehen und wer draußen bleiben und Wache stehen sollte. Als der männliche Teil der Operation meinte Rudi, dass er die Tat ausführen sollte, aber andererseits kannte sich Liesel hier aus. Sie war es, die hineingehen würde. Sie wusste, was sie auf der anderen Seite des Fensters erwartete. Und sie sagte es auch.»Ich gehe.«
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