Der Raum war so wie immer.
In der staubigen Dämmerung schüttelte Liesel den Anflug von Nostalgie ab. Sie schlich vorwärts und wartete darauf, dass sich ihre Augen an das schummrige Licht gewöhnten. »Was ist los?«, flüsterte ihr Rudi mit scharfer Stimme von draußen zu, aber sie winkte ab, ohne sich umzudrehen, was so viel bedeuten sollte wie:»Halt's Maul!« »Das Essen«, gemahnte er sie,»such nach dem Essen. Und Zigaretten, wenn s geht.« Doch weder das eine noch das andere stand auf Liesels Liste. Sie war daheim, zwischen den Büchern des Bürgermeisters, die in allen möglichen Farben und Größen schimmerten, mit ihrer silbernen und goldenen Beschriftung. Sie konnte die Seiten riechen. Sie konnte fast die Worte schmecken, die um sie herum aufgestapelt waren. Ihre Füße trugen sie zu der Wand rechts von ihr. Sie wusste, wo das Buch stand, das sie wollte, kannte seine genaue Position - aber als sie dort ankam, war es nicht da. An seiner Stelle prangte eine Lücke im Regal. Sie hörte, wie sich von oben Schritte näherten. »Das Licht!«, flüsterte Rudi. Er schob die Worte durch das offene Fenster.»Es ist aus!« »Scheiße!« »Sie kommen runter.« Den Worten folgte ein ellenlanger Moment, dann die Ewigkeit einer sekundenschnellen Entscheidung. Ihre Augen huschten durch den Raum, und da sah sie es. Der Pfeifer lag geduldig auf dem Schreibtisch des Bürgermeisters. »Beeil dich!«, warnte Rudi sie. Aber Liesel ging sehr ruhig und gemessenen Schrittes zum Schreibtisch, nahm das Buch und schlüpfte vorsichtig und leise wieder aus dem Haus. Mit dem Kopf zuerst kletterte sie aus dem Fenster, schaffte es trotzdem, auf ihren Füßen zu landen, spürte noch einmal das Brennen in ihren Fußsohlen und in ihren Knöcheln. »Komm schon!«, flehte Rudi.»Lauf, lauf! Schnell!« Als sie um die Ecke waren und wieder auf der Straße, die zum Fluss und zur Münchener Straße führte, blieb Liesel stehen, beugte sich nach vorn, stützte die Hände auf die Oberschenkel und schnappte nach Luft. Ihr Körper fühlte sich an wie zusammengefaltet. Die Luft in ihrem Mund war halb erfroren, und ihr Herz schlug wie eine Glocke in ihren Ohren.
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