VIKTOR CHEMMELS VERSPRECHEN
»Das wirst du mir noch büßen, mein Freund.« Man kann über Viktor Chemmel sagen, was man will, jedenfalls besaß er Geduld und ein gutes Gedächtnis. Es dauerte etwa fünf Monate, bis er sein Versprechen einlöste. Liesel nahm Rudi an der Hand, und sie gingen davon. Ein letztes Mal drehte sich Rudi um und spuckte Blut und Speichel vor Viktor Chemmels Füße. Eine Geste, die ihm ein abschließendes Versprechen einbrachte. Seine Idee war es, über all das zu schreiben, was ihm widerfahren war - und was ihn in den Keller in der Himmelstraße geführt hatte -, doch nicht diese Idee wurde Wirklichkeit. Max' Exil schuf etwas völlig anderes. Es war eine Sammlung von willkürlichen Gedanken, und er beschloss, sich darauf einzulassen. Es fühlte sich wahrhaftig an. Diese Gedanken waren wirklicher als die Briefe, die er an seine Familie und an seinen Freund Walter Kugler schrieb, wohl wissend, dass er sie nie würde abschicken können. Aus den geschändeten Seiten von Mein Kampf entsprangen Skizzen, Seite für Seite, die in Max' Augen die Ereignisse zusammenfassten, die dem Wechsel von seinem früheren in sein jetziges Leben zugrunde lagen. Für einige brauchte er Minuten, für andere Stunden. Er dachte, dass er das fertige Buch Liesel schenken würde, wenn sie alt genug war und dieser ganze Irrsinn hoffentlich hinter ihnen liegen würde. Von dem Moment an, in dem er die Bleistifte auf den ersten weiß gemalten Seiten ausprobiert hatte, hielt er das Buch stets geschlossen. Oft lag es neben ihm oder immer noch zwischen seinen Fingern, wenn er schlief. Eines Nachmittags, nach seinen täglichen Körperertüchtigungen, schlief er, an die Kellerwand gelehnt, ein. Liesel kam herunter und sah das Buch neben ihm liegen, leicht gegen seinen Oberschenkel geneigt. Die Neugier übermannte sie. Sie bückte sich und hob es auf, wartete darauf, dass er sich rührte. Er tat es nicht. Max saß mit seinem Kopf und den Schulterblättern an der Wand. Liesel konnte kaum das Geräusch seines Atems hören, der in hineinströmte und wieder herausfloss. Sie öffnete das Buch und blätterte ein paar Seiten um. Verängstigt durch das, was sie sah, legte Liesel das Buch zurück, genau so, wie sie es vorgefunden hatte, an Max' Bein gelehnt.
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