Immer noch nichts.
Erst als sie auf ihren feuchten, schmutzigen Socken zurück zur Kreuzung lief, sah sie ihn kommen. Rudis triumphierendes Gesicht blickte ihr unbeirrt entgegen, während er sich in leichtem Trott näherte. Seine Zähne waren zu einem Grinsen gebleckt, und von seiner Hand baumelten Liesels Schuhe.»Man hätte mich fast umgebracht«, bemerkte er,»aber ich hab's geschafft.«Er reichte Liesel die Schuhe, und sie ließ sie zu Boden plumpsen. Dann setzte sie sich und schaute zu ihrem besten Freund hoch.»Danke«, sagte sie. Rudi verneigte sich.»Es war mir ein Vergnügen.«Er beschloss, sein Glück zu versuchen.»Es hat wohl keinen Sinn, dich um einen Kuss als Belohnung zu bitten, oder?« »Weil du mir meine Schuhe gebracht hast, die du stehen gelassen hattest?« »Hast ja recht.«Er hob die Hände und sprach weiter, während sie sich auf den Heimweg machten. Liesel bemühte sich, ihn nicht weiter zu beachten. Nur seinen letzten Satz konnte sie nicht ignorieren.»Ich würde dich wahrscheinlich sowieso nicht küssen wollen - nicht wenn du aus dem Mund so riechst wie deine Schuhe.« »Du widerst mich an«, erklärte sie und hoffte inständig, dass er nicht den flüchtigen Anflug eines Lächelns sehen konnte, das ihr von den Lippen gefallen war. In der Himmelstraße schnappte sich Rudi das Buch. Unter einer Straßenlaterne las er den Titel und fragte, wovon es handelte. Verträumt antwortete Liesel:»Nur von einem Mörder.« »Ist das alles?« »Es geht auch um einen Polizisten, der den Mörder fangen will.« Rudi gab ihr das Buch zurück.»Wo wir gerade davon sprechen - ich nehme an, dass wir Prügel beziehen, wenn wir nach Hause kommen. Besonders du.« »Warum ich?« »Du weißt schon - wegen deiner Mama.«»Was ist mit ihr?« Es ist völlig in Ordnung, wenn man sich selbst über Familienmitglieder beklagt, wenn man über sie herzieht und sie kritisiert, aber wehe, es tut jemand anderes! In diesem Moment stellt man sich hin, strafft die Schultern und beweist absolute Loyalität. »Stimmt irgendwas nicht mit ihr?«, fragte Liesel und berief sich auf ihr uneingeschränktes Recht, zu einer Familie zu gehören. Rudi machte einen Schritt rückwärts.»Tut mir leid, Saumensch. Ich wollte dich nicht beleidigen.« Selbst im Schimmer der Nacht sah Liesel, dass Rudi erwachsen wurde. Sein Gesicht wurde länger. Der blonde Haarschopf verdunkelte sich ganz leicht, und seine Züge schienen ihre Form zu verändern. Aber es gab etwas, das sich nie ändern würde. Man konnte ihm unmöglich lange böse sein. »Gibt's heute Abend bei dir was Gutes zu essen?«, fragte er.»Wohl kaum.« »Bei mir auch nicht. Schade, dass man Bücher nicht essen kann. Arthur Berg hat mal so was Ähnliches gesagt. Weißt du noch?« Während des restlichen Heimwegs schwelgten sie in Erinnerungen an die gute alte Zeit. Liesel schaute oft hinunter auf den grauen Einband und den schwarz geprägten Titel des Buches. Der Pfeifer. Ehe sie in ihren jeweiligen Häusern verschwanden, blieb Rudi einen Augenblick lang stehen und sagte:»Mach's gut, Saumensch.«Er lachte.»Gute Nacht, Bücherdiebin.« Es war das erste Mal, dass sie so genannt wurde, und sie konnte die Tatsache nicht verbergen dass es ihr sehr gefiel. Wie wir - ihr und ich - wissen, hatte sie schon früher Bücher gestohlen, aber im Oktober 1941 wurde es offiziell. In dieser Nacht wurde Liesel Meminger wahrhaftig zur Bücherdiebin ernannt.
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