MAX VANDENBURGS BLICKRICHTUNG
Er würde die Gesichter in der Münchener Straße nach dem eines diebischen Mädchens absuchen. An diesem Tag im Juli, der - so errechnete Liesel später - gleichzeitig der achtundneunzigste Tag seit der Rückkehr ihres Papas war, stand sie da und studierte den vorrückenden Haufen aus trauervollen Juden, immer auf der Suche nach Max. Sich auf ihn zu konzentrieren schwächte wenigstens den Schmerz des bloßen Zuschauens ab. Was für ein schrecklicher Gedanke, schrieb sie später im Keller der Himmelstraße, aber sie wusste, dass es stimmte. Der Schmerz, ihnen zuzuschauen. Aber was war mit deren Schmerz? Der Schmerz der stolpernden Schuhe und der Folter und der sich schließenden Tore des Lagers? Zwei Mal innerhalb von zehn Tagen kamen sie vorbei, und kurz darauf erwies sich die Aussage der backpflaumengesichtigen Frau auf der Münchener Straße als korrekt. Das Leiden war über sie gekommen. Wenn sie die Juden als eine Warnung oder ein Vorspiel dafür betrachteten, so hätten sie auch den Führer und sein Bestreben, Russland zu unterwerfen, als den eigentlichen Grund ansehen müssen. Denn als die Himmelstraße Ende Juli erwachte, fand man einen heimgekehrten Soldaten tot auf. Er hing von einem der Deckenbalken in einer Wäscherei neben Frau Lindners Eckladen herab. Ein weiteres menschliches Pendel. Eine weitere Uhr, die aufgehört hatte zu ticken. Der sorglose Besitzer der Wäscherei hatte die Tür nicht abgeschlossen.
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