Natürlich sah ich Liesel Meminger an diesem Tag nicht. Wie üblich ermahnte ich mich, dass ich viel zu viel zu tun hatte, um in der Himmelstraße zu bleiben und dem Geschrei zu lauschen. Es ist schlimm genug, wenn die Menschen mich auf frischer Tat ertappen, und daher entschied ich mich wie üblich zu einem raschen Abgang, hinein in die frühstücksfarbene Sonne.
Ich hörte nicht die Detonation der Stimme eines alten Mannes, als er den erhängten Körper fand, noch das Geräusch rennender Schritte und herunterklappender Kiefer, als sich mehr Menschen dort versammelten. Ich hörte nicht, wie ein hagerer Mann mit einem Schnurrbart murmelte:»Eine Schande, eine himmelschreiende Schande...«
Ich sah nicht Frau Holzinger flach auf der Himmelstraße liegen, mit weit ausgebreiteten Armen und einem schreienden Gesicht, voller Verzweiflung. Nein, ich erfuhr erst ein paar Monate später davon, als ich zurückkehrte und etwas las, was Die Bücherdiebin hieß. Dort wurde mir berichtet, dass Michael Holzinger nicht seiner verletzten Hand oder einer anderen Wunde erlegen war, sondern der Schuld zu leben.
Im Vorfeld seines Todes hatte das Mädchen bemerkt, dass er nicht schlief, dass jede Nacht Gift für ihn war. Ich stelle mir oft vor, wie er wach lag, schweißgebadet in Laken aus Schnee oder mit Visionen der abgetrennten Beine seines Bruders vor Augen. Liesel schrieb, dass sie ihm manchmal beinahe von ihrem eigenen Bruder erzählt hätte, wie sie es bei Max getan hatte, aber zwischen dem weit entfernten Husten und zwei abgerissenen Beinen schien ihr ein zu großer Unterschied zu bestehen. Wie tröstet man einen Menschen, der so etwas gesehen hatte? Sollte man ihm sagen, dass der Führer stolz auf ihn war, dass der Führer ihn liebte für das, was er in Stalingrad getan hatte? Wie hätte man das je wagen können? Man konnte nur ihm das Reden überlassen. Das Dilemma ist allerdings, dass solche Menschen die wichtigsten Worte für danach aufheben, wenn die Mitmenschen das Pech haben, sie zu finden. Ein Zettel, ein Satz, sogar eine Frage - oder ein Brief, wie in der Himmelstraße im Juli 1943.