Liesel sollte sich bald in einem zweiten befinden.
Fast einen Monat nachdem die Schule wieder angefangen hatte, wurde sie in ihren entsprechenden Jahrgang versetzt. Man sollte glauben, dass dies mit ihrem verbesserten Lesevermögen zu tun hatte, aber das war nicht der Fall. Trotz ihrer Fortschritte hatte sie immer noch große Schwierigkeiten beim Lesen. Überall waren Sätze verstreut. Worte hielten sie zum Narren. Der Grund dafür, dass man sie versetzte, war, dass sie in der Klasse der Schulanfänger zum Störfaktor wurde. Sie beantwortete Fragen, die an andere Kinder gerichtet waren, und rief dazwischen. Ein paar Mal wurde sie heftig von ihrer Lehrerin gewatscht. EINE ERKLÄRUNG Watsche = eine ordentliche Ohrfeige watschen = jemandem eine anständige Abreibung verpassen Und so wurde sie versetzt, wurde zu einem Platz am Rande des Klassenzimmers gewiesen, und die Lehrerin, die außerdem Nonne war, befahl ihr, den Mund zu halten. Rudi, der auf der anderen Seite des Raums saß, sah zu ihr und winkte. Liesel winkte zurück und versuchte, nicht zu lächeln. Zu Hause kamen sie und Papa mit dem Handbuch für Totengräber gut voran. Sie unterstrichen die Wörter, die sie nicht verstanden, und nahmen sie am nächsten Tag mit hinunter in den Keller. Liesel glaubte, das wäre genug. Aber das war es nicht. Anfang November fanden in der Schule Prüfungen statt; die Fortschritte der Schüler sollten kontrolliert werden. Eine dieser Prüfungen betraf das Lesen. Jedes Kind musste vor die Klasse treten und einen Absatz vorlesen, den die Lehrerin ausgewählt hatte. Es war ein frostiger Morgen, aber sonnenhell. Die Kinder kniffen die Augen zusammen. Ein Heiligenschein umgab Schwester Maria, die Nonne, die eher aussah wie ein Sensenmann ohne Sense. (Übrigens mag ich die Vorstellung, die sich die Menschen vom Tod als Sensenmann machen. Mir gefällt die Sense. Ich finde sie amüsant.) In dem sonnendurchfluteten Klassenzimmer wurden willkürlich Namen aufgerufen. »Waidenheim. Lehmann. Steiner.« Alle standen auf und lasen vor, alle mit höchst unterschiedlichen Ergebnissen. Rudi war überraschend gut. Während die Prüfung ihren Lauf nahm, saß Liesel mit einer Mischung aus heißer Erregung und maßloser Angst da. Sie wünschte sich verzweifelt, ihre Fähigkeit einschätzen zu können, ein für alle Mal herauszufinden, welche Fortschritte sie mit dem Lesen gemacht hatte. War sie der Aufgabe gewachsen? Konnte sie sich auch nur annähernd mit Rudi und den anderen messen? Jedes Mal, wenn Schwester Maria auf ihre Liste schaute, verkrampfte sich ein Nervenstrang in Liesels Brustkorb. Es hatte im Bauch angefangen, sich aber mittlerweile nach oben gearbeitet. Bald schon würde der Krampf um ihren Hals liegen wie ein dickes Seil. Nachdem Tommi Müller seine mittelmäßige Vorstellung abgegeben hatte, sah sich Liesel im Klassenzimmer um. Alle hatten vorgelesen. Sie war als Einzige noch übrig. »Sehr gut.«Schwester Maria nahm die Liste noch einmal genau in Augenschein.»Das war's.«Was?»Nein!« Auf der anderen Seite des Raums nahm die Stimme eine fast körperliche Form an. An ihr hing ein Junge mit zitronengelben Haaren, dessen knochige Knie in den Hosenbeinen unter dem Tisch aneinanderklapperten. Er hob die Hand und sagte:»Schwester Maria, ich glaube, Sie haben Liesel vergessen.«
|