Schwester Maria. Blieb unbeeindruckt.
Sie ließ die Mappe mit der Liste vor sich auf das Pult fallen und betrachtete Rudi mit seufzender Missbilligung. Ihr Seufzen war beinahe schon melancholisch. Warum, so klagte sie still, musste sie sich mit Rudi Steiner herumärgern? Er konnte einfach seinen Mund nicht halten. Warum nur, Gott, warum? »Nein«, sagte sie, mit Endgültigkeit in der Stimme. Ihr kleiner Bauch neigte sich zusammen mit dem Rest ihres Körpers nach vorn.»Ich fürchte, Liesel kann das nicht, Rudi.«Die Lehrerin schaute dorthin, wo Liesel saß, als erwartete sie eine Bestätigung.»Sie kann mir später vorlesen.« Das Mädchen räusperte sich und sprach mit gelassener Aufsässigkeit.»Ich kann jetzt lesen, Schwester.«Die Mehrzahl der Kinder verfolgte die Szene schweigsam. Ein paar von ihnen übten sich in der herrlichen Kindheitskunst des Kicherns. Der Schwester riss der Geduldsfaden.»Nein, das kannst du nicht! - Was machst du da?« Denn Liesel war aufgestanden und ging nun langsam und steif nach vorne zur Tafel. Sie hob das Buch auf und öffnete es irgendwo in der Mitte. »Also gut«, sagte Schwester Maria.»Du willst also vorlesen? Dann lies vor.« »Ja, Schwester.«Nach einem hastigen Blick auf Rudi sah Liesel hinab und begutachtete die Seite. Als sie wieder aufschaute, wurde der Raum zunächst auseinandergezogen und dann wieder zusammengepresst. Die Kinder wurden zerquetscht, direkt vor ihren Augen, und in einem Augenblick voll hellem Strahlen stellte sie sich vor, dass sie die ganze Seite in fehlerlosem, flüssigem Triumph vorlas.
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