Liesel musste es eingestehen.
Nachdem ihr anfängliches leises Schuldgefühl verflogen war, musste sie zugeben, dass der Plan perfekt war, oder wenigstens so perfekt, wie es nur möglich war. Jeden Freitagnachmittag kurz nach zwei Uhr bog Otto Sturm in die Münchener Straße ein. Die Lebensmittel hingen in einem Korb vor ihm an der Lenkstange. An diesem Freitag würde er nicht weiter kommen als bis hierher. Die Straße war schon eisig, aber Rudi fügte ihr einen zweiten Belag hinzu. Er konnte sich das Grinsen kaum verkneifen. Es glitt ihm übers Gesicht wie ein Rodelschlitten. »Komm jetzt«, sagte er,»dort hinein, in den Busch.« Nach etwa fünfzehn Minuten trug ihr diabolischer Plan Früchte - im wahrsten Sinne des Wortes. Rudi deutete mit seinem Finger durch eine Lücke im Laub des Büschs.»Da ist er.«Otto kam um die Ecke, so ahnungslos wie ein Lamm. In Sekundenschnelle hatte er die Kontrolle über sein Fahrrad verloren, rutschte über das Eis und blieb mit dem Gesicht nach unten auf der Straße liegen. Als er sich nicht mehr bewegte, schaute Rudi Liesel erschrocken an.»Christus steh uns bei«, sagte er,»glaubst du, wir haben ihn umgebracht?«Er kroch langsam aus seinem Versteck. Dann schnappte er sich den Korb, und die beiden gaben Fersengeld. »Hat er geatmet?«, fragte Liesel, als sie ein gutes Stück entfernt waren. »Keine Ahnung«, sagte Rudi und umklammerte den Korb. Am Fuß des Hügels drehten sie sich um und sahen zu, wie Otto aufstand, sich zuerst am Kopf und dann im Schritt kratzte und überall nach dem Korb suchte. »Dämlicher Scheißkopf.«Rudi grinste. Dann begutachteten sie ihre Beute. Brot, zerbrochene Eier, Äpfel und - Volltreffer! - Speck. Rudi hielt die fettige Schwarte an seine Nase und sog genüsslich das Aroma ein.»Herrlich.« So verlockend der Wunsch auch war, ihren Sieg für sich zu behalten, empfanden sie doch eine überwältigende Loyalität Arthur Berg gegenüber. Sie gingen zu seiner ärmlichen Mietswohnung in der Kempfstraße und zeigten ihm, was sie ergattert hatten. Arthur konnte nicht umhin, ihnen Lob zu zollen. »Wem habt ihr das geklaut?« Es war Rudi, der antwortete.»Otto Sturm.« »Tja«, nickte Arthur,»wer immer das ist, ich bin ihm dankbar.«Er ging hinein und kehrte mit einem Brotmesser, einer Bratpfanne und einer Jacke wieder. Gemeinsam verließen sie das Haus.»Wir trommeln die anderen zusammen«, erklärte Arthur Berg.»Wir mögen zwar Kriminelle sein, aber wir sind keine Stinker.«Genauso wie bei der Bücherdiebin gab es auch bei ihm Grenzen. Sie klopften an ein paar Türen, riefen von der Straße aus Namen zu Fenstern hinauf, und schon bald war die ganze Horde von Arthur Bergs Obst- und Gemüsedieben auf dem Weg zur Amper. Sie wateten zur anderen Uferseite, entzündeten auf der ersten Lichtung ein Feuer und brieten, was von den Eiern noch zu verwenden war. Dann wurden Brot und Speck aufgeschnitten. Mit Händen und Messern wurde jeder Krümel von Otto Sturms Lieferung verspeist. Weit und breit war kein Pfarrer in Sicht. Erst gegen Ende erhob sich ein Streit, und er betraf den Korb. Die Mehrheit der Jungen wollte ihn verbrennen. Fritz Hammer und Andi Schmeikl hätten ihn gerne behalten, aber einmal mehr stellte Arthur Berg seine außerordentliche moralische Einstellung unter Beweis. »Ihr beide«, sagte er zu Rudi und Liesel.»Ihr solltet diesem Sturm den Korb zurückbringen. Ich bin der Meinung, dass der arme Kerl wenigstens das verdient.« »Ach, komm schon, Arthur.« »Ich will nichts davon hören, Andi.« »Herrgott nochmal!« »Der will auch nichts davon hören.« Die Meute lachte, und Rudi Steiner nahm den Korb.»Ich bringe ihn zurück und hänge ihn bei den Sturms an den Briefkasten.« Er war keine zwanzig Meter weit gekommen, da schloss das Mädchen zu ihm auf. Sie würde zwar später nach Hause kommen, als gut für sie war, aber sie war sich der Tatsache bewusst, dass sie Rudi Steiner begleiten musste, bis zum Hof der Sturms auf der anderen Seite der Stadt.
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