Sie hielt ihr Mienenspiel unter Kontrolle.
Als der Winter kam, war nicht länger sie das Opfer, an dem Schwester Maria ihren Ärger ausließ. Sie durfte zusehen, wie andere hinaus auf den Gang gezerrt wurden, wo sie ihren gerechten Lohn in Empfang nahmen. Zu hören, wie ein anderer Schüler draußen gewatscht wurde, war nicht besonders angenehm, aber die Tatsache, dass es jemand anderes war, war - wenn auch kein wahrer Trost - so doch eine Erleichterung. Am letzten Schultag vor den Weihnachtsferien gewährte Liesel sogar Schwester Maria ein»Frohes Fest«. Da die Hubermanns mehr oder weniger mittellos waren, immer noch Schulden abbezahlen mussten und die Miete immer schon längst überfällig war, wenn zufällig etwas Geld im Hause war, erwartete Liesel keine Geschenke. Lediglich vielleicht etwas Besseres zu essen. Zu ihrer Überraschung sah sie an Heiligabend, nachdem sie mit Mama, Papa, Hans junior und Trudi zur Mitternachtsmette in der Kirche gewesen war, etwas in Zeitungspapier eingepackt unter dem Weihnachtsbaum liegen. »Vom Weihnachtsmann«, sagte Papa, aber das Mädchen ließ sich nicht beirren. Sie umarmte ihre Pflegeeltern, noch während ihr der Schnee auf den Schultern lag. Sie riss das Papier auf und enthüllte zwei kleine Bücher. Das erste, Faust, der Hund, war von einem Mann namens Mattheus Ottelberg geschrieben. Sie sollte dieses Buch dreizehn Mal lesen. Schon am Weihnachtsabend las sie die ersten zwanzig Seiten - am Küchentisch, während Papa und Hans junior sich über etwas stritten, was sie nicht verstand. Etwas, das sie Politik nannten. Später las sie im Bett weiter und fuhr dabei fort, die Worte, die sie nicht verstand, zu unterstreichen und niederzuschreiben. In Faust, der Hund gab es auch Bilder - herrliche Linien und Kurven und Ohren und Gesichter eines Schäferhundes mit einem geradezu obszönen Sabberproblem und der Fähigkeit zu sprechen. Das zweite Buch hieß Der Leuchtturm und war von einer Frau geschrieben worden, von Ingrid Rippinstein. Dieses Buch war etwas länger, sodass Liesel nur neun Mal schaffte, es durchzulesen. Ihr Lesetempo hatte sich am Ende dieser beiden fruchtbaren Lektüreerfahrungen tatsächlich ein wenig beschleunigt. Erst einige Tage nach Weihnachten stellte sie eine Frage, die die Bücher betraf. Sie saßen in der Küche beim Essen. Liesel betrachtete die Löffelvoll Erbsensuppe, die in Mamas Mund verschwanden, und beschloss, sich an Papa zu wenden.»Ich muss euch etwas fragen.« Zunächst: keine Reaktion. »Was?«
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