EIN KLEINES BILD
Das meiste ist so wie immer. Der Zug fahrt mit derselben Geschwindigkeit. Ihr Bruder hustet ausgiebig. Diesmal allerdings kann Liesel sein zu Boden gerichtetes Gesicht nicht sehen. Langsam beugt sie sich vor. Ihre Hände heben sanft sein Kinn, und da, vor ihr, ist das großäugige Gesicht von Max Vandenburg. Er starrt sie an. Eine Feder fällt zu Boden. Der Körper ist jetzt größer, passend zum Umfang des Gesichts. Der Zug kreischt. »Liesel?« »Ich sagte, alles in Ordnung.« Zitternd kletterte sie von der Matratze. Benommen vor Angst, ging sie durch den Flur zu Max. Nach ein paar Minuten an seiner Seite, als sich alles wieder etwas beruhigt hatte, versuchte sie, den Traum zu deuten. War es eine Vorahnung von Max' Tod? Oder war es nur die Folge des Gesprächs in der Küche? Nahm Max jetzt die Stelle ihres Bruders ein? Und wenn es so war, wie konnte sie sich dann solcherart ihres eigenen Fleisches und Blutes entledigen? Vielleicht hegte sie tief in ihrem Innern den Wunsch, dass Max sterben möge. Immerhin war der Tod gut genug für ihren Bruder gewesen. Warum also nicht auch für einen Juden? »Denkst du das wirklich?«, wisperte sie über das Bett gebeugt.»Nein.«Sie konnte es nicht glauben. Ihre Antwort hielt stand, während die Taubheit der Nacht wich und die verschiedenen Formen - groß und klein - auf dem Nachttisch sichtbar wurden. Die Geschenke. »Wach auf«, sagte sie.
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