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Ein Buch trieb die Amper hinab. Ein Junge sprang ins Wasser, watete darauf zu und packte es mit der rechten Hand. Er grinste. Bis zur Hüfte stand er im eisigen Dezemberwasser.»Wie war's mit einem Kuss, Saumensch?« Beim nächsten Luftangriff am 2. Oktober war sie fertig. Nur ein paar Dutzend Seiten waren leer geblieben, und die Bücherdiebin hatte bereits angefangen, das Geschriebene noch einmal durchzulesen. Das Buch war in zehn Abschnitte unterteilt, die alle mit den Titeln von Büchern oder Geschichten überschrieben waren und erzählten, wie diese Bücher und Geschichten ihr Leben geprägt hatten. Oft frage ich mich, auf welcher Seite sie gerade war, als ich ein paar Nächte später im strömenden Regen durch die Himmelstraße ging. Ich frage mich, was sie gerade las, als die erste Bombe aus dem Bauch eines Flugzeuges fiel. Ich stelle mir vor, wie sie kurz auf die Wand schaut, auf Max Vandenburgs seiltanzende Wolke, auf die baumelnde Sonne und auf die Gestalten, die darauf zugehen. Dann betrachtet sie die mühevollen Rechtschreibübungen, aufgemalt mit Wandfarbe. Ich sehe den Führer die Kellertreppe hinunterkommen, die Boxhandschuhe lässig um den Nacken gebunden. Und die Bücherdiebin liest und liest wieder und wieder ihren letzten Satz, viele Stunden lang. DIE BÜCHERDIEBIN - LETZTER SATZ
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