Die Frau klopfte an Nummer 33 und wartete auf eine Antwort.
Es kam Liesel merkwürdig vor, sie ohne ihren Morgenmantel zu sehen. Das Sommerkleid war gelb mit einem roten Saum. Aufgenäht war eine Tasche mit einer kleinen Blume darauf. Keine Hakenkreuze. Schwarze Schuhe. Noch nie zuvor waren ihr Ilsa Hermanns Schienbeine aufgefallen. Sie hatte Porzellanbeine. »Frau Hermann, es tut mir leid - was ich das letzte Mal in der Bibliothek angestellt habe.« Die Frau bedeutete ihr zu schweigen. Sie griff in ihre Tasche und zog ein kleines schwarzes Buch heraus. Darin befand sich keine Geschichte, sondern liniertes Papier.»Ich dachte, dass du, wenn du meine Bücher nicht mehr lesen möchtest, vielleicht selbst eines schreiben willst. Dein Brief war...«Sie überreichte Liesel das schwarze Buch mit beiden Händen.»Du kannst schreiben. Du kannst gut schreiben.«Das Buch war schwer, der Einband matt wie der von Das Schulterzucken.»Und bitte«, fuhr Ilsa Hermann fort,»bestrafe dich nicht selbst, wie du in deinem Brief geschrieben hast. Werde nicht so wie ich, Liesel.« Das Mädchen schlug das Buch auf und berührte das Papier.»Danke schön, Frau Hermann. Ich kann Ihnen einen Kaffee kochen, wenn Sie möchten. Wollen Sie nicht hereinkommen? Ich bin allein. Meine Mama ist nebenan, bei Frau Holzinger.« »Müssen wir durchs Fenster klettern?« Liesel vermutete, dass dies das breiteste Lächeln war, das sich Frau Hermann seit Jahren gestattet hatte.»Ich glaube, wir gehen besser durch die Tür. Das ist einfacher.« Sie saßen in der Küche. Kaffeetassen und Brot mit Marmelade. Sie suchten nach Worten, und Liesel konnte hören, wie Ilsa Hermann schluckte, aber es war trotzdem nicht ungemütlich. Es war sogar schön zu sehen, wie die Frau sanft auf ihren Kaffee blies, um ihn abzukühlen. »Wenn ich jemals etwas schreibe und es auch zu Ende bringe«, sagte Liesel,»dann zeige ich es Ihnen.« »Das wäre schön.« Als die Frau des Bürgermeisters ging, schaute Liesel ihr nach. Sie betrachtete das gelbe Kleid und die schwarzen Schuhe und die Porzellanbeine auf der Himmelstraße. Am Briefkasten stand Rudi und fragte:»War das die, von der ich denke, dass sie es war?« »Ja.« »Im Ernst?« »Sie hat mir ein Geschenk gebracht.« Wie sich herausstellte, schenkte Ilsa Hermann Liesel Meminger an diesem Tag nicht nur ein Buch. Sie schenkte ihr auch einen Grund, Zeit im Keller zu verbringen - an ihrem Lieblingsplatz, den sie zunächst mit Papa und später mit Max geteilt hatte. Sie schenkte ihr einen Grund, ihre eigenen Worte aufzuschreiben, zu erkennen, dass Worte auch ihr das Leben geschenkt hatten. »Bestrafe dich nicht selbst«, hörte Liesel sie wieder sagen, aber die Strafe und der Schmerz würden kommen, und auch das Glück. So war das Schreiben. In der Nacht, als Mama und Papa schliefen, schlich sich Liesel hinunter in den Keller und machte die Kerosinlampe an. Eine Stunde lang betrachtete sie lediglich Papier und Bleistift. Sie wollte sich erinnern, und wie es ihre Gewohnheit war, schaute sie nicht weg. »Schreib«, befahl sie sich. Nach mehr als zwei Stunden hatte Liesel Meminger angefangen zu schreiben, ohne zu wissen, ob sie alles richtig machte. Woher sollte sie auch wissen, dass jemand ihre Geschichte aufheben und überallhin mitnehmen würde?
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