ES WAR EINMAL IN EINER NACHT
Viel später wurde mir klar, dass ich während dieser Zeit die Himmelstraße 33 aufgesucht haben muss. Es muss in einem der wenigen Momente gewesen sein, als das Mädchen nicht bei ihm war, denn alles, was ich sah, war ein Mann in einem Bett. Ich kniete nieder. Ich machte mich bereit, meine Hände in die Decken einzutauchen. Dann spürte ich ein starkes Wiederaufleben -einen kraftvollen Kampf gegen mein Gewicht. Ich zog mich zurück. Bei der ganzen Arbeit, die auf mich wartete, war es ein Genuss, dass ich in diesem kleinen, dunklen Raum abgewehrt worden war. Ich hielt kurz inne, schloss die Augen und gab mich einem Moment der Gelassenheit und Ruhe hin, ehe ich wieder ging. Am fünften Tag war die Aufregung groß, als Max - wenn auch nur für einen Moment - die Augen öffnete. Sein Blickfeld wurde fast gänzlich - ein erschreckender Gedanke, noch dazu so nahe - von Rosa Hubermann ausgefüllt, die praktisch einen ganzen Armvoll Suppe in seinen Mund schüttete.»Schlucken«, befahl sie ihm.»Nicht nachdenken. Nur schlucken.«Sobald Mama ihr die Suppentasse gereicht hatte, wollte Liesel einen Blick auf sein Gesicht erhaschen, aber der Rücken der Suppenfütterin war ihr im Weg. »Ist er noch wach?« Rosa drehte sich um. Eine Antwort war nicht nötig. Nach fast einer Woche wachte Max zum zweiten Mal auf. Diesmal waren Liesel und Papa im Zimmer. Beide betrachteten den Körper im Bett, als sich ein leises Stöhnen vernehmen ließ. Papa fiel fast aus dem Stuhl in die Höhe, wenn das möglich gewesen wäre. »Schau doch«, keuchte Liesel.»Max, bleib wach! Bleib wach!« Er schaute sie kurz an, aber ohne sie zu erkennen. Die Augen studierten sie, als wäre sie ein Rätsel. Dann waren sie wieder fort. »Papa, was ist passiert?« Hans ließ sich wieder in den Stuhl fallen. Später schlug er vor, dass sie ihm vorlesen solle.»Na komm, Liesel, du bist mittlerweile so gut im Lesen - selbst wenn keiner von uns eine Ahnung hat, woher du dieses Buch hast.« »Ich hab's dir doch gesagt, Papa. Eine der Nonnen aus der Schule hat es mir gegeben.« Papa hob in gespielter Abwehr die Hände.»Ich weiß, ich weiß.«Er seufzte aus der Höhe zu ihr hinab.»Nur...«Er wählte seine Worte mit Bedacht.»Lass dich nicht erwischen.«Und das von einem Mann, der einen Juden gestohlen hatte. Von diesem Tag an las Liesel Max aus dem Pfeifer vor, während er ihr Bett mit Beschlag belegte. Ärgerlich war nur, dass sie manchmal ganze Kapitel überspringen musste, weil die Seiten fest aneinanderklebten. Das Buch war zwar getrocknet, aber es befand sich in einem erbärmlichen Zustand. Trotzdem kämpfte sie sich weiter, bis zu dem Moment, wo sie fast drei Viertel hinter sich gebracht hatte.
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